Krieg in GazaBei den Geisel-Angehörigen wachsen Trauer und Wut ins Unermessliche
Die Buchshtabs haben alles versucht, damit ihr Sohn und Bruder Yagev lebend aus dem Gazastreifen zurückkehrt. Vergeblich. Bei seiner Beerdigung mischt sich der Schmerz darüber mit dem Zorn auf Politiker, die ein Geisel-Abkommen torpedieren.

Ein frisches Grab ist ausgehoben auf dem Friedhof, ein tiefes Loch klafft im trockenen, brauen Wüstenboden. Yagev Buchshtab kehrt heim in den Kibbuz Nirim, in einem Sarg, der mit der israelischen Flagge bedeckt ist.
Er ist einer jener sechs toten israelischen Geiseln, die in der Nacht zum Dienstag von israelischen Soldaten aus einem Tunnel in Khan Yunis geborgen worden waren. 35 Jahre ist er nur alt geworden. Über den verzweifelten Kampf seiner Familie für seine Freilassung hatte diese Zeitung berichtet – über ihre Kraft und die Verzweiflung, über ihre Hoffnung und die bohrende Angst. Dass Yagev nicht mehr am Leben ist, wussten die Eltern Esther und Oren Buchshtab und die beiden jüngeren Geschwister Nufar und Yuval schon seit ein paar Wochen. Die Armee hatte entsprechende Informationen erhalten. Doch nun erst schliesst sich das letzte Kapitel, nun wird er begraben.
300, vielleicht 400 Trauergäste sind erschienen: die Nachbarn aus dem Kibbuz, Unterstützer vom Familienforum, in dem sich die Angehörigen der Geiseln zusammengeschlossen haben, und auch ein paar Politiker sind dabei, alle aus den Reihen der Opposition. Herzzerreissend sind die Ansprachen am Grab, die an Yagev erinnern, der Musik liebte und Gedichte schrieb, der in seinem Kibbuz-Heim zusammen mit seiner Frau zahlreichen Hunden und Katzen Asyl bot und den alle liebten und schätzten. Der Schmerz überwältigt viele beim Sprechen, aber in diese Trauer mischt sich auch noch anderes: Schuldgefühle – und dann noch diese Wut, die wächst und wuchert.
Esther Buchshtab ist wöchentlich zur Knesset gefahren
«Slicha», Verzeihung, sagt Esther Buchshtab am Grab an ihren toten Sohn gewandt. «Slicha, slicha, slicha.» Sie hat sich aufgerieben in diesem Ringen um seine Befreiung. In die Knesset, zum israelischen Parlament, ist sie wöchentlich gefahren, um Druck auf die Politiker auszuüben. Jeden Samstag hat sie in Tel Aviv zusammen mit Zehntausenden anderen für einen Geiseldeal demonstriert. Nichts hat die Familie Buchshtab unversucht gelassen, aber all der Einsatz hat nichts gebracht. Yagev ist in Gaza gestorben.
«Slicha», sagt am Grab auch Rimon Kirsht-Buchshtab, die mit 36 Jahren nun Witwe ist. Zusammen war das Paar am 7. Oktober von den Hamas-Terroristen aus ihrem Haus in Nirim entführt worden. Zusammen hatten sie auch die ersten Wochen der Geiselhaft verbracht. Dann war sie frei gekommen, Ende November beim bislang einzigen Austausch von entführten Frauen und Kindern gegen palästinensische Gefangene. Man weiss von ihr, dass sie nicht hatte gehen, dass sie Yagev nicht hatte allein zurücklassen wollen. Sie musste zur Freiheit gezwungen werden. Seither hat sie auf ihn gewartet und alles vorbereitet für seine Rückkehr. Vergeblich.

Und nun lastet auf den Hinterbliebenen auch noch das Gefühl, nicht genug getan und nichts erreicht zu haben. Zur Trauer kommt noch dieser Schmerz, subjektiv und unerträglich. Zugleich jedoch drängt immer mehr von dem nach draussen, was lange unterdrückt worden ist. Was nicht gesagt und am besten nicht einmal gefühlt werden durfte: Dass es in Wahrheit allein die verantwortlichen Politiker sind, die nicht genug getan haben, um die Geiseln zu retten. Mehr noch, dass sie die Geiseln verraten und dem Tod ausgeliefert haben.
Die Hälfte der verbleibenden 109 Geiseln könnte tot sein
«Was ist das für eine Welt, in der Familien betteln, schreien und weinen müssen für die Rückkehr ihre Liebsten, lebendig oder ermordet?», fragt Esther Buchshtab am Grab ihres Sohns. «Bringt sie alle zurück!», ruft sie.

Der das hören soll, sitzt weit weg von Nirim in Jerusalem. Premierminister Benjamin Netanyahu ist der Herr über Krieg und Frieden, über Leben und Tod. Selbst seine eigenen Unterhändler und die Spitzen von Armee und Geheimdiensten stecken inzwischen den Medien, dass er es ist, der alle Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln torpediert. Seit Monaten geht das so, und auch jetzt wieder, wo die US-Regierung Druck macht wie nie.
«Slicha» hat Netanjahu nie gesagt. Nicht für das Versagen des Staats am 7. Oktober, als die Terrortrupps beim Überall auf Israel fast 1200 Menschen ermordeten und mehr als 250 nach Gaza verschleppten. Auch nicht dafür, dass nach mehr als zehn Monaten immer noch 109 dieser Geiseln in Gaza vermisst werden. Die Hälfte von ihnen, so wird befürchtet, könnte schon tot sein. Statt «Entschuldigung» zu sagen, hat Netanyahu Berichten zufolge im Juli noch erklärt, dass «die Geiseln leiden, aber sie sterben nicht».
Netanyahus Worte sind ein Verrat
Falsch ist das nun nachweislich, herzlos sowieso. Aber es ist noch mehr: Es ist ein Verrat an Israels Werten. Denn zu den moralischen Fundamenten des jüdischen Staats gehört es, dass niemand zurückgelassen wird. Wer Israel mit aufbaut oder für Israel kämpft, soll wissen, dass für jeden alles getan wird, von allen. Deshalb zum Beispiel waren in der Vergangenheit schon für eine einzige Hamas-Geisel mehr als 1000 palästinensische Gefangene ausgetauscht worden.
Jetzt aber hat, so erleben es die Angehörigen der Geiseln, Netanyahu den alten Grundkonsens zerbrochen. Die Geiseln wirken wie Verhandlungsmasse. Priorität geniesst das Mantra vom «totalen Sieg» über die Hamas.
Die Wut, die Verzweiflung und die Hilflosigkeit angesichts dieses fundamentalen Verstosses gegen Israels Selbstverständnis ist bei allen Grabreden hier auf dem Friedhof von Nirim zu spüren. Als alle Reden gehalten sind, stehen die Trauergäste noch zusammen, fast niemand geht nach Hause. Es ist ja auch nur eine Pause bis zur nächsten Beerdigung. Gleich neben dem Grab von Yagev Buchshtab, auf dem jetzt schon die Kränze und die Blumen liegen, klafft noch ein weiteres Loch im Wüstenboden. Nadav Popplewell, der auch zu den sechs tot geborgenen Geiseln zählt, wird hier die letzte Ruhe finden. Im Kibbuz selbst kann bis heute seit dem 7. Oktober niemand mehr leben, aus Sicherheitsgründen. Nur der Friedhof füllt sich in Nirim.
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