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Verhandlungen im Gazakrieg
Sabotage von ganz oben – wie Netanyahu den Geisel-Deal mit der Hamas torpediert

TOPSHOT - Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu speaks during a state memorial ceremony for the victims of the 1948 Altalena affair, at Nachalat Yitzhak cemetery in Tel Aviv on June 18, 2024. (Photo by Shaul GOLAN / POOL / AFP)
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Peter Lerner dürfte einer der Israelis sein, die seit dem 7. Oktober 2023 die Kommunikation von Benjamin Netanyahu am intensivsten verfolgt haben. Acht Monate lang war der Reservist Lerner einer der Sprecher der israelischen Streitkräfte (IDF), und nach dem Ende seines Dienstes stellt er der rechtsreligiösen Regierung in der liberalen Tageszeitung «Haaretz» ein vernichtendes Zeugnis aus.

Schon drei Tage nach dem mörderischen Überfall der Hamas auf Israel, bei dem knapp 1100 Israelis und 71 Ausländer getötet und etwa 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt wurden, hätten ihm Journalisten naheliegende Fragen gestellt. Welche Ziele Israel denn habe und wie der Plan für die Zeit nach Ende des Gazakriegs aussehe. Doch auch nach neun Monaten, klagt Lerner, existiere «keine politische Strategie für den Krieg, obwohl wir mittlerweile an zwei Fronten kämpfen».

Für diese Aufgabe seien aber nicht die IDF zuständig, sondern die Politik. Schliesslich habe er gemerkt, dass die Regierung nicht noch unentschieden sei, sondern sie überhaupt nicht entscheiden werde. Die Folgen seien klar: Netanyahu habe einen «absoluten Sieg» über die Hamas versprochen, doch auf der Weltbühne und im Urteil der internationalen Gemeinschaft habe Israel verloren, weil das Leiden der Zivilisten im Gazastreifen weitergehe.

Die Kritik, die Peter Lerner erhebt, ist scharf, aber neu ist sie nicht. Dem 74-jährigen Netanyahu werfen Gegner vor allem zwei Dinge vor. Er zögere Entscheidungen möglichst lange heraus, um viele Optionen zu haben. Und es gehe ihm darum, an der Macht zu bleiben. Mindestens zwei Parteien in seiner Regierung haben erklärt, bei einem Deal mit der Hamas die Koalition zu verlassen.

Die Zahl der freigelassenen Geiseln «maximieren»

Vor diesem Hintergrund sind auch die jüngsten Aktionen zu verstehen. Seit dem 7. Oktober gibt Netanyahu in Israel kaum Interviews oder Medienkonferenzen. Stattdessen versorgen seine Mitarbeiter Medien mit Einschätzungen eines «ranghohen Regierungsmitarbeiters», hinter dem Beobachter den Premier vermuten. Zudem schickt sein Büro den Medien oft Erklärungen und kritisiert etwa Aktionen des Militärs, die er selbst genehmigt haben muss.

Am Sonntagabend kam wieder eine Medienmitteilung heraus – und die Aufregung über die sieben Sätze hält noch an. Denn während eine israelische Delegation nach Ägypten aufbrach, um über die Antwort der Hamas auf den Dreistufenplan für einen Waffenstillstand und eine Freilassung der Geiseln zu sprechen, nannte der Premier vier Prinzipien.

So müsse Israel das Recht bekommen, den Krieg erneut zu beginnen, um alle Ziele zu erreichen. Zudem dürften keine Waffen von Ägypten in den Gazastreifen geschmuggelt werden. Auch sei man dagegen, dass Tausende bewaffneter Terroristen zurück in den Norden des Gazastreifens dürfen. Brisant ist Punkt vier: Israel werde die Zahl der Geiseln «maximieren», die lebend von der Hamas freigelassen werden.

USA erachten Deal weiterhin für möglich

Den Begriff Maximierung interpretieren aber nicht nur die Angehörigen so, dass Netanyahu nicht alles tun wolle, um sämtliche lebenden Geiseln zurückzuholen. Genau dies wird aber nicht nur seit Wochen von Hunderttausenden Demonstranten gefordert, es ist auch das erklärte Ziel der Streitkräfte – auch um sich nach einem Waffenstillstand in Gaza auf die Bedrohung durch die Schiiten-Miliz Hizbollah konzentrieren zu können.

*** BESTPIX *** TEL AVIV, ISRAEL - JUNE 29: Protesters hold signs during a demonstration against the Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu and his government on June 29, 2024 in Tel Aviv, Israel. Saturday night anti-government protest have occurred weekly for months, amid calls by many Israelis for Prime Minister Netanyahu to prioritize the return of hostages held in Gaza over the defeat of Hamas. Netanyahu has recently distanced himself further from a US-backed ceasefire proposal that would entail the release of hostages, instead talking about the war in Gaza entering a less "intense phase." (Photo by Amir Levy/Getty Images)

In Washington betonte ein Sprecher, die USA hielten einen Deal zwischen Israel und der Hamas weiter für möglich. Allerdings höre man von beiden Seiten «öffentliche Aussagen, die nicht unbedingt den privaten Gesprächen ähneln, die wir mit ihnen oder ihren Vertretern führen». Nadav Eyal, prominenter Journalist in Israel, schreibt auf X: «Wer einen Deal will, stellt keine öffentlichen Ultimaten. Wer sabotieren will, der tut es. So einfach ist es.»

Gleichwohl gehen die Verhandlungen weiter. Inzwischen berät David Barnea, Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes, in Doha mit Vertretern aus Katar, Ägypten und den USA. Dass auch CIA-Chef Bill Burns nach Doha reist, zeigt, wie viel Druck die internationalen Vermittler gerade ausüben. Allerdings warnt Israel vor verfrühtem Optimismus: Man beginne «lange, schwierige und komplexe Verhandlungen». Wie viele palästinensische Häftlinge im Gegenzug für eine israelische Geisel freikommen sollen, ist nur eins von vielen Details – und Netanyahus Maximalprinzipien sind wohl noch gar nicht eingepreist.

Ob hinter dem Vorstoss ein Plan steckt, wird in Israel viel diskutiert. Eine Umfrage von Kanal 13 ergab, dass 54 Prozent der Ansicht sind, dass Netanyahus wichtigstes Anliegen in den Verhandlungen sein politisches Überleben ist. Nur 31 Prozent glauben, das Schicksal der Geiseln habe Priorität.

Klar ist, dass Netanyahu nach einem Sturz seiner Regierung mit weiteren Verfahren zum Vorwurf der Bestechlichkeit rechnen muss. Zudem würde nach einem Waffenstillstand sicher mit der Aufarbeitung begonnen, was vor dem 7. Oktober 2023 falsch gelaufen ist.

Gegenseitige Beschimpfungen in Regierung

Als sicher gilt, dass Netanyahu erst mal drei Wochen durchhalten will. Denn in zwei Wochen soll er in Washington vor dem Kongress sprechen, und Ende Juli geht das Parlament in eine dreimonatige Sommerpause. Der Koalition würde die Unterbrechung guttun, denn gerade überziehen sich die Partner mit Beschimpfungen.

Aryeh Deri von der ultraorthodoxen Shas-Partei wirft Netanyahu vor, die Kontrolle verloren zu haben. Deri ist sauer, weil der ultrarechte Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir ein Shas-Gesetz blockiert, damit Netanyahu ihn ins Sicherheitskabinett aufnimmt. Der Premier wiederum schimpft, Ben-Gvir benehme sich «wie ein Kind». Andere nennen ihn «grössenwahnsinnig». Ben-Gvir giftet zurück und nennt Deri einen «Schosshund der Linken».

Verantwortungsvoll agiert nur die Opposition. Ihr Anführer Yair Lapid bietet ein «Sicherheitsnetz» an: Netanyahu solle das Abkommen mit der Hamas schliessen und Lapids Partei werde ihn als Regierungschef stützen. Dieses Angebot falle ihm schwer, so Lapid, denn Netanyahu sei «gescheitert». Aber gegenwärtig gebe es nichts Wichtigeres, als dass alle Geiseln zurück zu ihren Familien könnten.

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