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Interview zum Gazakrieg
«Die Hamas kann man nicht vernichten»

Leeukerbad, le 22 juin 2024,Joseph Croitoru, Autor des Buches "Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel".© sedrik nemeth
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Schwarzer Anzug, leise Stimme: Der Historiker Joseph Croitoru ist kein lauter Akteur im medialen Schlachtgetümmel um den Gazakrieg. Wer eindeutige Schuldzuweisungen sucht, ist beim gebürtigen Israeli an der falschen Adresse. Dabei hat er eben sein zweites Buch über die Hamas publiziert und trat jüngst am Literaturfestival in Leukerbad auf, wo auch dieses Interview stattfand.

Herr Croitoru, der israelische Armeesprecher sagte jüngst, die Hamas sei in den Herzen der Menschen verwurzelt, man könne sie nicht vernichten. Teilen Sie diese Analyse?

Bereits wenige Stunden nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu angekündigt, die Hamas vernichten zu wollen. Diese Ansage hängt seither wie ein Nebel über dem Kriegsgeschehen. Aber die Hamas kann man nicht vernichten. Auch wenn die israelische Armee nach eigenen Angaben bisher 12’000 der total rund 40’000 bewaffneten Kämpfer im Gazastreifen getötet hat. Die Auslandsführung der Hamas sitzt in Katar, im Libanon, in der Türkei und im Iran. Es gibt mit der Hamas verbundene Medien und auch Thinktanks in Istanbul oder im Libanon.

Wie stark ist die Hamas in den Herzen der Menschen im Gazastreifen verwurzelt?

Es dürfte kein Zufall sein, dass die israelische Armee im Gazastreifen auch die zivile Infrastruktur der Hamas weitgehend zerstört hat. Sie trägt zur Verwurzelung der Islamisten-Organisation in der Bevölkerung bei.

Sie schreiben von Moscheen, Bibliotheken, Archiven. Warum diese Ziele?

Unter den ersten Moscheen, die zerstört wurden, waren jene der Muslimbrüder. Sie sind nicht nur Orte der Indoktrinierung und der religiösen Umerziehung der Bevölkerung in Richtung Re-Islamisierung. Sie sind auch Teil eines breiteren zivilen Netzes der Hamas, zu dem auch kleine medizinische Praxen, Kindergärten und Schulen gehören. Mit diesen Wohlfahrtsangeboten hat die Hamas die Herzen der Menschen gewonnen.

«In Wahrheit waren die Schulbücher mit den Jahren immer progressiver geworden.»

War das Erziehungswesen unter Kontrolle der Hamas?

Nur teilweise. Im Gazastreifen gibt es ja auch die Schulen des UNO-Palästina-Hilfswerks UNRWA, wo nach dem mehrheitlich säkularen Bildungsprogramm der Autonomiebehörde aus der Westbank unterrichtet wird.

In der Schweiz wollten Teile des Parlaments die Unterstützung der UNRWA wegen der Schulbücher kürzen, die antisemitische Inhalte enthalten sollen.

Das basiert auf einer Analyse, die sich Punkte aus einem Unterrichtsprogramm herauspickt, um den ganzen Lehrplan als radikal darzustellen. In Wahrheit waren die Schulbücher mit den Jahren immer progressiver geworden, wie etwa die Untersuchung des deutschen Georg-Eckert-Instituts 2021 festgestellt hat.

Palestinian children attend classes at a United Nations school in the Shati refugee camp, in Gaza City, Thursday, Oct. 4, 2007. Large numbers of students in U.N.-run schools in Gaza have flunked aptitude tests in math and Arabic, the agency said Thursday, attributing the poor showing to violence, poverty and overcrowding. More than two-thirds of students in grades four through nine failed math, and more than one-third did poorly in Arabic, said the U.N. Relief and Works Agency, which runs schools for the children of Palestinian refugees across the Arab world. Ninety percent of Gaza sixth-graders failed the math test, UNRWA said.(AP Photo/Khalil Hamra)

Inwiefern hat denn eine «schleichende Islamisierung» im Gazastreifen stattgefunden, von der Sie schreiben?

Die Hamas denkt langfristig. Sie ist nie davon abgerückt, durch Umerziehung der Gesellschaft einen islamischen palästinensischen Staat zu bilden. Aber die Hamas ist auch nationalistischer geworden. Sie hat sich die Ziele der Nationalbewegung angeeignet, um grössere Teile der Bevölkerung anzusprechen und um zu zeigen, dass es eine gemeinsame Grundlage mit der Autonomiebehörde im Westjordanland gibt. So treten etwa seit einiger Zeit Kinder bei Zeremonien im Gazastreifen in Trachten auf, was den Kleidervorschriften der Muslimbruderschaft widerspricht. Die Hamas sah auch ein, dass sie an Popularität verlieren könnte, wenn sie Körperstrafen gemäss der Scharia einführen würde. Das Ziel bleibt aber, die Führung der Palästinenser irgendwann zu übernehmen.

Hamas-Führer Yahya Sinwar schrieb in geleakten Depeschen, in nationalen Befreiungskriegen seien zivile Opfer «notwendige Opfer». Wie passt das zu den erwähnten Wohlfahrtsangeboten?

In der Ideologie der Hamas gibt es da keine Diskrepanz. Sinwars Zitat ist als Ausdruck eines erweiterten Märtyrerkults zu verstehen. Er baut auf der alten islamischen Tradition des Schlachtfeld-Märtyrers auf, der im Kampf um die Verteidigung der islamischen Gemeinschaft stirbt. In den Schulen der Hamas fand auch eine Erziehung zum Märtyrerkult statt.

«Die Familien der getöteten Märtyrer erhalten eine finanzielle Belohnung.»

Wie stark ist der Märtyrerkult in der Bevölkerung verankert?

Er ist stark verankert. Getreu der Devise: «Wir sorgen für Dich, wir unterstützen Dich, auch mit dem Ziel, dass Du den Feind bekämpfst. Und wenn Du stirbst, wirst Du nochmals belohnt.» Die Familien der getöteten Märtyrer erhalten eine finanzielle Belohnung. Im Fall des Islamischen Jihad und der Hamas ist daran auch der Iran beteiligt. Das hat nicht die Hamas erfunden. Auch die PLO und andere säkulare Organisationen leisteten den Hinterbliebenen von Märtyrern materielle Hilfe.

Sinwar schrieb auch: «Wir haben die Israelis genau dort, wo wir sie haben wollten.» Zögert er den Waffenstillstand hinaus, um den Blutzoll zu erhöhen und Israel noch stärker in Misskredit zu bringen?

Ich sehe keine empirische Grundlage für diese These. Die Hamas hat offensichtlich nicht mit einer solch heftigen Reaktion der israelischen Armee auf den 7. Oktober gerechnet. Damals haben beide Seiten Fehler gemacht. Der Fehler der Israelis war es, die Kriegsübungen der Milizen im Gazastreifen nicht ernst zu nehmen. Der Fehler aufseiten der Palästinenser war es, davon auszugehen, dass die Israelis nach der Geiselentführung zu einem Gefangenenaustausch bereit sein würden, wie das früher ja der Fall war.

FILE - Yahya Sinwar, head of Hamas in Gaza, chairs a meeting with leaders of Palestinian factions at his office in Gaza City, Wednesday, April 13, 2022. The Hamas officials are accused by the ICC of planning and instigating eight war crimes and crimes against humanity, among them extermination, murder, taking hostages, rape and torture. (AP Photo/Adel Hana, File)

Es war demnach gar nicht ein Ziel, möglichst viele israelische Zivilisten umzubringen?

Es wurden Tagesbefehle der Qassam-Brigaden bei getöteten Terroristen gefunden, aus denen hervorgeht, dass möglichst viele Menschen entführt und auch möglichst viele getötet werden sollen. Im Januar hat die Hamas ihre Motivation in einem mehrseitigen Dokument dargelegt. Darin wurde behauptet, dass beim Angriff einiges ausser Kontrolle geraten sei. Bei einer Analyse des Geschehens kann man tatsächlich zum Schluss kommen, dass einiges nicht wie geplant ablief.

Alles in allem: Was war das Hauptziel des 7. Oktober?

Das Ziel des Angriffs war die Verbreitung von Terror. Terror bedeutet, möglichst viel Schrecken überraschend zu verbreiten. Damit sollten die Belange der Angreifer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Denn die Sache der Palästinenser war in den letzten Jahren ziemlich ins Abseits geraten.

Inwiefern hat Netanyahus Politik zur Stärkung der Hamas beigetragen?

Die aktuelle Regierung Netanyahu will möglichst grosse Teile der Westbank besiedeln, damit sie nie wieder in die Hand der Palästinenser gelangen. Um die expandierenden Siedlungen zu schützen, wurden etliche Armee-Einheiten vom Grenzgebiet zum Gazastreifen ins Westjordanland verlegt. Am 7. Oktober fehlten sie.

Die Hamas-Charta von 1988 sieht die Vernichtung Israels vor. In einem Dokument von 2017 schliesst die Hamas eine Zweistaatenlösung aber nicht aus. Was gilt nun?

Im Papier von 2017 zeigt sich die Hamas bereit, den bewaffneten Kampf auf Eis zu legen, wenn sich Israel aus den Palästinensergebieten zurückzieht. Diese Haltung hat übrigens der einstige Hamas-Führer Scheich Jassin schon in den Neunzigerjahren vertreten. Israel hat das Angebot nie angenommen.

Aber das bedeutet keine Anerkennung des Existenzrechts Israels?

Israel ist seit 2018 offiziell als jüdischer Staat definiert. Damit geht, gerade auch im Programm der Netanyahu-Regierung, der Anspruch auf ein biblisch-jüdisch definiertes «Erez Israel» einher. Dieses umfasst im Grunde das ganze ehemalige Mandatsgebiet. Wenn die Palästinenser diesen Anspruch Israels anerkennen, wird ihr eigener Anspruch als autochthone Bewohner des Landes negiert.

Welche Lösung des Konflikts sehen Sie?

Die Zweistaatenlösung. Dafür muss es aber internationalen Druck auf Israel geben. Denn schon in seiner ersten Amtszeit hat Netanyahu die Option einer Zweistaatenlösung für nichtig erklärt. Wegen des kontinuierlichen Rechtsrucks gibt es mittlerweile auch bei der Opposition nur wenig Unterstützung für die Zweistaatenlösung.

Gibt es sie auf palästinensischer Seite?

Da ist die Bereitschaft gross. Präsident Mahmud Abbas hat angeboten, die Verwaltung im Gazastreifen zu übernehmen. Er ist auch offen für eine Kooperation mit arabischen Ländern.

Das Palästina-Bild vieler Linker im Westen blendet den islamistischen Charakter der Hamas oft aus. Warum?

Teile der Linken sind vermutlich noch auf ältere Narrative aus der Zeit des bewaffneten Kampfes der säkularen Palästinenser fixiert. Aber man vergisst im Westen auch gerne, dass die Hamas Teil einer palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung ist. Sie ist unter israelischer Besatzung entstanden, einer Gewaltherrschaft über Menschen. Im Westen hat man keine rechte Vorstellung davon, was das tatsächlich bedeutet.

Besetzung Universität Bern von pro-palästina-Aktivist*innen in der Mensa der Uni Tobleram 12.05.2024 in Mühlethurnen. Foto: Raphael Moser / Tamedia AG

Also ist das Bild der westlichen Linken von einer Befreiungsbewegung nicht falsch?

Man kann die Hamas als Befreiungsbewegung sehen, aber eine mit einem starken islamistischen Akzent. Und wie ihre säkularen Vorgänger greift sie zum Terrorismus, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Ismail Haniya, Chef der Ausland-Führung der Hamas, verbuchte den 7. Oktober in dieser Hinsicht als Erfolg.

«Bei den zivilen Opfern herrscht seit Jahren eine deutliche Asymmetrie.»

Der Preis dafür war ein grausames Abschlachten von Zivilisten.

Ja, beim brutalen Überfall wurden schreckliche Gräueltaten an Zivilisten begangen, das war von bestimmten Gruppen auch beabsichtigt. In den angegriffenen Militärbasen und Orten wurde aber auch hart gegen die Terroristen gekämpft, von denen nach israelischen Angaben mehr als tausend getötet wurden. Bei den zivilen Opfern herrscht schon seit Jahren eine deutliche Asymmetrie, die durch den Krieg noch schärfer wurde. Zwischen 2008 und September 2023 starben bei Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Gruppen im Gazastreifen 177 israelische Zivilisten. Auf palästinensischer Seite waren es 3800. Das Verständnis für das Leid der anderen Seite fehlt oft auf beiden Seiten.

Aber am 7. Oktober ging es den Angreifern um Vernichtung.

Offensichtlich nicht allen Angreifern, für etliche standen eher Entführungen im Vordergrund. Auch die israelische Armee, der es ja um eine Vernichtung der Hamas geht, greift Zivilisten an. Ein ganzes Hochhaus wird zerbombt, nur weil sich dort angeblich ein Büro der Hamas befindet – wohl wissend, dass dort Familien leben. Nicht immer hat das israelische Militär, das von sich behauptet, es sei das moralischste der Welt, die Bewohner rechtzeitig gewarnt. All das sollte man bedenken, wenn man über die Gräueltaten des 7. Oktober spricht.