Einfluss von AlgorithmenDie Banalisierung der Kunst – und was sich dagegen tun lässt
Das Internet versprach uns Vielfalt. Stattdessen forciert es die kommerzielle Verbreitung einer Mehrheitskultur.
Der Junge war keine zwanzig Jahre alt, hatte sein Studium abgebrochen und schlief bei seiner Schwester auf dem Boden. Sie drohte ihm mit Rauswurf. Montero Lamar Hill, ein Afroamerikaner aus dem tiefen Südstaat Georgia, wollte Musiker werden wie sein Vater, ein Gospelsänger. Zugleich arbeitete er sich ins Internet ein und machte Filme für Tiktok.
Dann hörte er eine Instrumentalnummer, die ihm gefiel. Ein Produzent in den Niederlanden hatte sie angefertigt. Montero Hill kaufte dem Kollegen die Nummer für 30 Dollar ab, schrieb einen Text dazu, nahm das Stück in einem Tag auf, stellte es auf Youtube, bot eine Kurzversion auf Tiktok an. Wenig später führte «Old Town Road» die Billboard Top 100 und blieb 19 Wochen lang auf Platz eins. Das ist ein Rekord in der langen Geschichte dieser Hitparade.
Zugleich drang das Stück auch bei den schwarzen R’n’B- und den weissen Country-Charts an die Spitze. Andere Charts in anderen Ländern bestätigten den Erfolg, darunter die Schweiz. Was war geschehen?
18 Millionen Mal verkauft
Lil Nas X, wie sich der Junge jetzt nannte, hatte nichts anderes getan, als den Einfluss der Algorithmen konsequent zu nutzen. Um mit seinem Song möglichst oft empfohlen zu werden, bemühte er sich um grösstmögliche stilistische Vielfalt bei gleichbleibender Gefälligkeit. Der Text dekliniert die Erzählklischees der Country-Musik, der Gesang klingt nach Soul und sanftem Hip-Hop, die Begleitung spielt Tanzmusik in Zeitlupe, zwischendurch hört man ein Banjo, ausserdem ist das Ganze mit einem Sample der Avantgarde-Gruppe Nine Inch Nails unterlegt.
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Mit dieser ungewöhnlichen Kombination aus Country und Rap triggerte «Old Town Road» ein Maximum an Algorithmen, also Empfehlungen an die Masse. Über Tiktok wurde das Stück bekannt und über Youtube berühmt. Auf dem dazugehörigen Video trägt der Musiker einen Cowboyhut und reitet sein Pferd in die Stadt. Auf dem Trottoir schauen die Leute fassungslos.
In einer späteren Version singt der Countrystar Billy Ray Cyrus mit, Vater von Miley. Am Schluss bringen sie in einer Turnhalle die Leute zum Tanzen. Der Song verkaufte sich weltweit 18 Millionen Mal.
«Old Town Road» macht vor, welche Definitionsmacht die Algorithmen über den Geschmack von Konsumentinnen und Konsumenten entwickelt haben. Kyle Chayka, ein 35-jähriger Technikjournalist beim Magazin «New Yorker», fasst ihren krakenartigen Einfluss unter dem Begriff «Filterworld» zusammen.
Reisen, Restaurants, Rezepte
In seinem gleichnamigen Buch führt er uns vor, wie sehr diese Algorithmen und die kommerziellen Interessen ihrer Betreiber unser Leben verändert haben. Unsere Wahrnehmung von Kultur, unser Konsumverhalten, unsere gesellschaftlichen Kontakte. Reise, Fahrt, Miete; Restaurants, Rezepte, Ernährung; Sex, Beziehung, Liebe; Bücher, Filme, Platten; Kaufen, Leihen, Mieten – überall wirken Algorithmen auf uns ein.
Was wir für einen Entscheid halten, ist meistens das Resultat einer Einflussnahme mit kommerzieller Absicht. Wären Algorithmen schon zu Lebzeiten von Federico Fellini aktiv gewesen, schreibt der amerikanische Regisseur Martin Scorsese in einer Polemik, sein Kollege hätte «Otto e Mezzo» niemals finanzieren können, ein Film über das künstlerische Scheitern, den viele für Fellinis besten halten.
«Eine Verflachung der Kultur»
Algorithmen sollen uns eine Auswahl ermöglichen, aber ihr Ziel ist der Umsatz. Und das Resultat, wie Kyle Chayka in seinem Buch schreibt, «eine Verflachung der Kultur». Er vergleicht diese Nivellierung mit der Wirkung von Massentourismus: Je mehr Leute sich für einen Ort interessieren, desto mehr verliert er seine Einzigartigkeit.
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Algorithmen suchen nach Ähnlichkeiten von Vorlieben und bündeln diese in Produkte. So fiel dem weit gereisten Journalisten bei seinen Aufenthalten in Städten wie Singapur, Bukarest, Peking, Tokio oder Reykjavik mit der Zeit auf, dass sich alle Cafés glichen, die ihm Google Maps empfahl: helle Räume, hohe Lattes, karges Interieur, Ambientmusik, WLAN-Tauglichkeit und das Klacken der Konsumenten auf den Tastaturen ihrer Laptops.
Aber diese Bündelung der Kultur funktioniert über den Prozess hinaus als eine kulturelle Vereinnahmung. Denn die Algorithmen nivellieren nicht nur das Angebot, sie besetzen es auch: als Ausdruck einer globalisierenden Amerikanisierung der Kultur, gesteuert über Daten und Kapital. Man fühlt sich an den Satz von Wim Wenders erinnert, dem deutschen Regisseur, der es wissen musste: «Amerika hat unser Unbewusstes kolonisiert.»
Wen kann das erstaunen? Amazon, Facebook, Netflix, iTunes und viele andere sind US-Firmen, das schwedische Spotify und Tiktok aus China bleiben Ausnahmen. Letzten Endes, schreibt Kyle Chayka in seinem Buch, gehe die Vereinheitlichung der Kultur auf ein paar wenige Unternehmen in Silicon Valley zurück. «Obwohl die Globalisierung auch die Algorithmen bestimmt», sagt er im Gespräch, «spielen amerikanische Firmen immer noch eine bestimmende Rolle.»
Wir werden immer mehr vereinnahmt
Nun bieten Algorithmen einen grossen Vorteil im Umgang mit der Unübersichtlichkeit des Internets: Wo wir an der Menge des Gebotenen verzweifeln, sortieren sie für uns aus, und zwar entsprechend unserer Vorlieben. Was soll daran schlecht sein?
Was Kyle Chayka beunruhigt: Dass die Programme immer aufdringlicher entscheiden, was uns gefallen könnte – nämlich das, was am meisten anderen Konsumenten ebenfalls gefällt. Damit droht die Kultur zu einer Wiederaufführung des Bewährten zu verkümmern, die Algorithmen forcieren das Akzeptierte, statt uns mit dem Neuen zu konfrontieren.
Diese Vereinheitlichung geht weit über Filme, Musik, Bücher, Restaurants und Ausstellungen hinaus. Und dringt immer mehr in unseren Alltag ein.
Schriftstellerinnen passen ihre Romane den Erfolgsquoten von Amazon an. Filme wie die des Marvel-Franchise begnügen sich mit Wiederholungen. Videos werden immer auch auf ihre Tiktok-Kompatibilität erstellt. Wichtiger als kulturelle Inhalte werden ihre Kontexte: Wie sie vermarktet, gebrandet und multimedial inszeniert werden. «Content capital», nennt man diese Zusätze kultureller Leistungen, Kapitalisierung von Inhalten.
Als Gegenstück dieser kulturellen Fernsteuerung bringt Kyle «taste» ins Spiel, den menschlichen Geschmack als Ausdruck eines individuellen Interesses. Der Geschmack einer Kunstsammlerin formt sich über viele Ausstellungen und Käufe, ergänzt altes Wissen mit neuen Erfahrungen, ergibt sich aus einer lebenslangen Erfahrung von Kultur. Man könnte auch von Stil reden.
Die besten Sammlerinnen und Sammler der jeweils aktuellen Kunst waren auch die ersten, die in der bestehenden Kunst die zukünftige ahnten, die zum Beispiel den künstlerischen Wert von so umstrittenen Ausdrucksformen wie Kubismus oder Pop-Art vor allen anderen erkannten.
Eine dreimonatige Auszeit
Als Kyle Chayka sich in seinen Apps und Medien verloren hatte, verordnete er sich eine Zwangspause, drei Monate lang. Koppelte sich von allen Angeboten der sozialen Medien ab, kappte Twitter, Tiktok, Spotify, Amazon, Netflix und all die anderen Zulieferdienste.
Nach einer Phase akuter Entzugserscheinungen und digitaler Einsamkeit nahm er bei sich eine Beruhigung wahr. Las längere Texte, schaute Bilder gründlicher an, hörte ältere Musik, lebte langsamer. Mit der Zeit fiel ihm auf, dass nicht nur er sich vom Internet getrennt hatte, sondern das Internet von ihm. «Das Schweigen des Systems war erdrückend.»
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Eines Abends fuhr der Journalist mit seiner Frau Jess durch New York auf dem Weg nach Washington, wo das Paar lebt. Beim Scannen des Autoradios stiessen sie auf eine Radiostation, deren DJ eine eigenwillige, offensichtlich persönlich ausgewählte, kühn kombinierte Musik spielte und ihre Zusammenhänge erläuterte.
Der DJ hiess Paul Cavalconte, sitzt seit Jahrzehnten am Mikrofon und begeistert sein Publikum mit der Originalität der ausgewählten Musik. Seine Rolle als «gatekeeper», als Türwächter der Kultur, brachte Kyle Chayka auf die Person des Kurators, den er sich als Alternative zu den Automatismen der Algorithmen vorstellt: eine kompetent vermittelnde, unabhängige Instanz, die uns kulturelle Werke präsentiert wie eine Ausstellung: auserwählt, stellvertretend, aufeinander bezogen.
Im rosaroten Leder
Nun gibt es solche Angebote und Sendungen schon lange. Chayka nennt die Sammlung «Criterion», die hochstehende Filme im Netz auswählt, präsentiert und erläutert. In der Schweiz bietet die Filmplattform Cinefile.ch einen ähnlichen Service an. Auch zum Jazz und zur klassischen Musik finden sich solche Angebote. Dass diese Dienste auch etwas kosten, hält Chayka für eine Bedingung einer Qualitätsgarantie. Denn Kuratieren setzt grosses Wissen und anhaltende Neugierde voraus, und diese Eigenschaften müssen erarbeitet werden.
Chayka glaubt, dass viele von der algorithmischen Verordnungskultur gelangweilte Konsumenten sich solchen kuratierten Angeboten zuwenden werden, weil sie so viel persönlicher sind und deshalb origineller. Seit längerem bieten auch konventionelle Programme solche Task-Masters an, es sind also problemlos Kombinationen möglich.
Zurück auf die «Old Town Road», der Multimillionen-Song des jungen Musikers aus Georgia. Bevor sein Lied auch den ersten Platz der Country-Hitparade erklomm, entschieden die Verantwortlichen von Billboard, ihn aus der Hitparade zu entfernen.
Zwar beziehe sich der Song auf die Country-Musik und das Bild des Cowboys, schreiben sie zur Begründung, enthalte aber zu wenig Elemente des Genres, um in der Country-Hitparade zu verbleiben. Dass nicht die Hörer einer Hitparade, sondern ihre Betreiber darüber befinden, ob ein Song passt oder nicht, ist der Country-Musik immer wieder passiert, die sich als überwiegend weiss, ländlich, südstaatlich und konservativ profiliert. Dazu passt ein schwarzer Südstaatler nicht, der sich auch noch als homosexuell geoutet hat.
Demonstrativ reitet er in einer Version seines Videos in einem rosaroten Ganzlederanzug durch die Stadt. Es mag kein Trost sein, aber es ist aufschlussreich: Beim Rassismus versagen selbst die Algorithmen.
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