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Das Problem der CO₂-Zertifikate
Klimakompensierer unter Druck

Jährlich mehrere Millionen Franken: Bei Digitec Galaxus kompensieren 12 Prozent aller Kundinnen und Kunden den CO2-Fussabdruck ihrer Einkäufe.
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Das Klimakompensieren ist längst in unserem Alltag angekommen. Nicht nur Firmen erkaufen sich durch CO₂-Zertifikate ein grüneres Image. Auch Konsumentinnen und Konsumenten: Sie kompensieren beim Fliegen, Kreuzfahrtschiff, ja sogar der Kaffeemaschine.

«Goodbye CO₂», kündigte beispielsweise der grösste Schweizer Onlinehändler Digitec Galaxus im Sommer 2020 an, als er «das klimaneutrale Einkaufen» einführte. Bei jeder achten Bestellung machen Kunden davon Gebrauch. Im Onlineshop wird gleich die «Klimakompensation» berechnet. Mit einem Klick macht man die Emissionen, die bei der Produktion und dem Transport des Einkaufs anfallen, wieder wett. 

Egal ob die 2500 Franken teure Hightech-Kamera oder der Milchschäumer für 13 Franken: Will die Kundin «klimaneutral» einkaufen, kostet sie das lediglich ein paar Rappen. Oder im Fall der Kamera: 4.25 Franken. 

Das Geld – 2022 war es ein einstelliger Millionenbetrag – fliesst via Umweltzertifikate in Klimaschutzprojekte der Firma South Pole. Das Unternehmen mit Sitz in Zürich ist nach eigenen Angaben der international grösste Anbieter von Klimaschutzprojekten. Dessen Klimaschutzexperten haben für Digitec Galaxus ein Modell entwickelt, das den CO₂-Fussabdruck jedes Produkts bestimmt.

Seit kürzlich bekannt wurde, dass South Pole ihr Prestige-Kompensationsprojekt in Zimbabwe massiv überbewertet hat, ist die Debatte über die Integrität des Kompensierens neu entfacht. Denn statt wie versprochen 40 Millionen Tonnen CO₂ soll das Waldschutzprojekt seit der Lancierung 2011 nur 20 Millionen Tonnen eingespart haben. Das verunsichert jetzt Firmen, die mit South Pole zusammenarbeiten. (Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Die CO₂-Kompensation hat ein Glaubwürdig­keits­problem)

Digitec Galaxus sagt, man habe eine Erklärung von South Pole verlangt. «Wir prüfen diese nun intern», so ein Sprecher. Auf die Frage, wie Digitec Galaxus nun sicherstelle, dass auch die Produktberechnungen nicht aufgebläht seien, sagt er: «Wir sind in erster Linie Onlinehändler, keine Klimaexperten.» Darum arbeite man ja mit South Pole zusammen.

Auch der Zementriese Holcim vertraut auf South Pole und zeigt sich beunruhigt. «Die Überschätzung erachten wir als sehr problematisch», sagt Holcim auf Anfrage. Wie viel der Zementkonzern jährlich für die South-Pole-Zertifikate ausgibt, will er nicht offenlegen. 

Das Waldschutzprojekt Kariba in Zimbabwe war eines der weltweit ersten gross angelegten Klimaschutzprojekte zur Vermeidung von Abholzung.

Der Nahrungsmittelkonzern Nestlé, der sich von South Pole beim Einsparen von Emissionen beraten lässt, sagt: «Wir stehen mit South Pole in Kontakt, um zu erfahren, welche Schritte das Unternehmen nach diesen Vorwürfen unternommen hat.» Nestlé setzt sich weiterhin für «klare und international anerkannte Standards und Regeln für den Markt für Emissionszertifikate ein». 

Doch hier zeigt sich die grosse Schwachstelle des noch jungen Markts der freiwilligen Kompensationen, dessen Umsatz auf über 1,8 Milliarden Franken geschätzt wird. Zwar gibt es Standards. Nur keine unabhängige Kontrollstelle. 

Millionen Tonnen an CO₂ werden nur auf dem Papier eingespart

Zum Verständnis: Neben dem sogenannten Compliance-Markt, dessen Nachfrage von den verbindlichen Klimaschutzverpflichtungen der Industrieländer abhängt, ist in den letzten Jahren ein rasant wachsender Markt für die freiwillige Kompensation von Schadstoffemissionen entstanden. 

Der grosse Unterschied: Zertifikate im freiwilligen Markt müssen nicht den internationalen Regeln der Vereinten Nationen entsprechen. So haben sich verschiedene Zertifizierungsmechanismen entwickelt, die jeweils eigene Vorgaben zu den Klimaschutzprojekten machen. Während die einen ausschliesslich die Klimawirkung eines Projekts beachten, berücksichtigen andere auch soziale und ökologische Auswirkungen.

Und hier kommt der Zertifizierer Verra ins Spiel, der weltweit rund drei Viertel aller freiwilligen Gutschriften zertifiziert. Die Organisation hat gemäss eigenen Angaben seit 2009 über eine Milliarde Emissionsgutschriften ausgestellt. Sie sollte einen verlässlichen Standard garantieren. Doch eine internationale Recherche warf jüngst grosse Fragezeichen auf, wie integer der von Verra definierte Verified Carbon Standard (VCS) ist.

Untersucht wurden rund 30 von der Organisation Verra zertifizierte Regenwaldprojekte. Das Ergebnis ist ein Skandal: Über 90 Prozent aller aus diesen Projekten verkauften Zertifikate sind wertlos. Mit anderen Worten: Knapp 89 Millionen Tonnen CO₂ wurden gar nicht eingespart.

Wie kann das sein?

Die Verantwortlichen solcher Projekte verkaufen auch Zertifikate für Wald, der vermutlich abgeholzt werden würde, hätte das Kompensationsprojekt nicht eingegriffen. Das Problem bei Waldschutzprojekten: Die Prognose, wie viel Wald in Zukunft gerodet werden würde, ist sehr unzuverlässig. Dies hat das kritisierte Projekt von South Pole exemplarisch gezeigt. Die Zürcher Firma geht von einer Überschätzung von 50 Prozent aus. Sie hat den Verkauf weiterer Zertifikate vorläufig gestoppt.

«Verra muss seine Referenzfallstandards anpassen»

Axel Michaelowa, Experte für internationale Klimapolitik an der Universität Zürich und Mitgründer des Beratungsunternehmens Perspectives, beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Kohlenstoffmärkten. Er sieht das Problem vor allem beim Marktführer Verra: «Sie prüfen von jeher nicht sorgfältig, ob die Projekte auch ohne den Kohlenstoffmarkt stattgefunden hätten.» 

Dasselbe gilt für die Erstellung der Referenzfälle, dem Vergleichsmassstab für die Berechnung einer Emissionsgutschrift.  Für Waldprojekte ist beispielsweise entscheidend, wie hoch der Abholzungsdruck in einem Projektgebiet wirklich ist, weil etwa eine Strasse gebaut werden soll. «Verra muss seine Referenzfallstandards anpassen», so Michaelowa.

Die Organisation hingegen wies die Kritik der jüngsten Enthüllungen von sich. In einem Statement erklärte sie, man arbeite mit Akademikerinnen und Experten auf der ganzen Welt zusammen, um die Methoden zu entwickeln und zu verfeinern. Künftig werden Waldschutzprojekte statt wie bisher nach zehn neu nach sechs Jahren überprüft und neu bewertet. Auf Anfrage dieser Redaktion sagt eine Sprecherin von Verra, sie würden noch dieses Jahr eine neue Methodik für Waldschutzprojekte veröffentlichen. Diese beinhalte auch eine angepasste Berechnung der erwarteten Entwaldungsrate in einem Projektgebiet.

Die Abholzung der Regenwälder schadet dem Klima.

Problematisch sind aber nicht nur unzuverlässige Prognosen, sondern ein offensichtlicher Interessenkonflikt der Verwalter von Standards am freiwilligen Markt: Je mehr Emissionen vermeintlich eingespart werden, desto mehr Zertifikate lassen sich verkaufen, desto mehr verdienen also alle Beteiligten. Auch diejenigen, die Kriterien für die Zertifizierung erstellen. Es zeigt sich erneut: Es fehlt an einer unabhängigen Instanz, die das System überwacht.

Zwar arbeiten zwei internationale Gruppen daran, in den nächsten Monaten neue Leitplanken für den freiwilligen Zertifikatemarkt aufzustellen: Der Integrity Council for the Voluntary Carbon Market (ICVCM) und die Voluntary Carbon Markets Integrity Initiative (VCMI). Beide wurden 2021 gegründet und umfassen Vertreterinnen von Regierungen, Unternehmen oder gemeinnützigen Organisationen.

Eine unabhängige Kontrolle gibt es trotzdem weiterhin nicht.

«Auch wenn das System noch nicht reibungslos funktioniert, hat es seine Berechtigung.»

Barbara Jossi, Leiterin Kompensation bei Swiss Climate

Der Druck auf die Player im Zertifikategeschäft wächst. Sie müssen die Glaubwürdigkeit für das CO₂-Kompensieren aufrechterhalten. Das spürt auch das in Bern ansässige Beratungsunternehmen Swiss Climate, das CO₂-Zertifikate von Klimaschutzprojekten an Kundinnen und Kunden vermittelt. Im Portfolio hat Swiss Climate unter anderen auch von Verra zertifizierte Waldschutzprojekte.

Barbara Jossi leitet den Geschäftsbereich Kompensation. Sie sagt: «Der Waldschutz ist ein grosses und wichtiges Thema für das globale Klima. Auch wenn das System noch nicht reibungslos funktioniert, hat es seine Berechtigung.» Es finanziere schliesslich Projekte, die Wälder schützen und die weltweite Abholzungsrate reduzieren würden. Was nicht zuletzt Teil des Pariser Abkommen ist, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.

Auch gibt es Kompensationsprojekte, die weit weniger Angriffsfläche bieten. Weil sich das Einsparpotenzial von Emissionen genauer berechnen lässt oder weil das CO₂ technisch aus der Luft entfernt wird.

Wichtig sei, dass die Methodik für die Berechnungen öffentlich einsehbar sei, was Standards wie Verra garantieren würden, sagt Jossi. «Dies ermöglicht, dass die Berechnungen von der Öffentlichkeit überprüft und auch angezweifelt werden können.»