Wettstreit der Tech-FirmenAbhängig, aber erfolgreich: Der KI-Sonderfall Schweiz
Künstliche Intelligenz wird entscheiden, welche Standorte florieren und welche untergehen. Die Chancen der Schweiz stehen gut – im Gegensatz zu Europa.

- KI wird entscheiden, welche Firmen erfolgreich sind und welche eingehen.
- Wer die beste Technologie besitzt, kann andere von sich abhängig machen.
- Europa investiert stark in KI, bleibt jedoch hinter den USA zurück.
- Die Schweiz ist vor allem dank vieler Talente und früher Investitionen vergleichsweise gut aufgestellt.
Es sind die scheinbar banalen Anwendungen, die zeigen, worin das Potenzial von künstlicher Intelligenz (KI) liegt. Statt mit Bleistift und Block laufen die Angestellten mit der Handykamera durch die Supermarktregale. Sie erfassen damit in Sekundenschnelle, ob Milch fehlt, der Mais falsch einsortiert ist oder unter dem Emmentaler der falsche Preis steht.
Möglich ist das dank der Firma Scandit, die Christof Roduner und seine beiden Geschäftspartner vor 15 Jahren in Zürich gegründet haben. Heute beschäftigen sie 400 Angestellte an acht Standorten weltweit. Ihre ausgefeilte, KI-unterstützte Technologie kann Bar-, Strich- und QR-Codes in Sekundenbruchteilen erkennen, auch von der Deckenkamera aus. Sie ist rund um den Globus im Einsatz, etwa bei den grössten Detailhändlern der USA sowie bei den französischen Carrefour und Decathlon.
Auch Fluggesellschaften oder Firmen wie Twint, DHL, Fedex, die Post oder die SBB, bei denen Codes gescannt oder Ausweise überprüft werden müssen, nutzen die Scandit-Lösung.
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Wenig glamouröse Anwendungen wie diese machen Firmen effizienter und entscheiden so, wer wen aus dem Markt treibt, an welchen Standorten Arbeitsplätze entstehen und wo Steuern anfallen. In den Regierungsgebäuden der Welt wird die Technologie deshalb gerade zur Chefsache erklärt.
Mit diesen Themen beschäftigte sich diese Woche die Weltpolitik am «AI Action Summit» in Paris. Von Geld und Macht war viel die Rede beim zweitägigen Gipfel mit über tausend Vertretern der Techbranche, Wissenschaftlern und Unternehmerinnen aus der ganzen Welt.
Die Diskussion in Paris sei «erwachsener geworden», sagt ETH-Computerwissenschaftler Alexander Ilic, der am Gipfel teilgenommen hat. Der Diskurs sei nicht mehr von Dramatik geprägt à la «Jetzt verlieren alle ihre Stelle», sondern pragmatisch. «Die Firmen realisieren, dass sich Jobs fundamental verändern.»
Regierungen wird bewusst, dass die Welt an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter steht. Für Staaten hängt der künftige Wohlstand davon ab, wie viel sie jetzt in diese Zukunftstechnologie investieren.
«Staaten machen sich erpressbar»
Alexander Ilic vergleicht das Momentum mit dem Ausbau der Eisenbahn im vorletzten Jahrhundert. Die Erkenntnis, dass die Schweiz im Hintertreffen sei und aufholen müsse, habe zum Bau des Gotthardtunnels sowie zur Gründung der ETH geführt.
So, wie der Ausbau des Schienennetzes und die Einführung immer besserer Lokomotiven den Grundstein für den Erfolg vieler Firmen legten, wird die KI-Infrastruktur viele Unternehmen effizienter machen. Doch es entstehen auch neue Abhängigkeiten.
Damals bestimmten die Eisenbahn-Magnaten, wer wie schnell wohin fahren konnte. In Zukunft werden die Besitzer der grossen Rechenzentren und der mächtigsten KI-Modelle es theoretisch in der Hand haben, wer zuerst die neueste Technologie bekommt – und zu welchem Preis.
«Dadurch machen Staaten sich erpressbar», sagt Jennifer Scurrell. Sie doktoriert am Zentrum für Sicherheitsstudien der ETH und hat sich auf künstliche Intelligenz spezialisiert. Zudem testet sie für Open AI KI-Modelle auf Risiken und forschte bei Microsoft Research.

«Wir sehen eine immer engere Vernetzung zwischen der Politik und den grossen Technologiekonzernen, besonders in den USA», sagt sie. Was heute Zölle seien, könnte morgen theoretisch auch der Zugang zu Rechenzentren sein.
Kein Wunder sind Politikerinnen und Politiker auf der ganzen Welt nervös – vor allem in Europa.
Europa droht, bei KI abgehängt zu werden
Europa hat bereits die Tech-Revolution, die Anfang der 2000er-Jahre in den USA begann, weitgehend verschlafen. Statt selbst zu investieren, kaufte man E-Mail-Programme, Cloud-Speicher und Rechenleistung von ausländischen Firmen ein. Das Gleiche droht nun bei KI: Viele europäische KI-Firmen bauen ihr Geschäftsmodell auf Technologie aus Amerika.
Ein europäisches Large Language Model (LLM) – ein System, das aufgrund von Wahrscheinlichkeiten Text erzeugen kann –, das mit Grössen wie Open AI, Anthropic oder Google konkurrieren kann, fehlt derzeit. Die grössten Hoffnungen liegen auf der französischen KI-Firma Mistral. Doch noch wird es wenig genutzt.
Laut der US-Risikokapitalgesellschaft Menlo Ventures kommt Mistral nur auf 5 Prozent Marktanteil, die Konkurrenten Open AI und Anthropic auf 34 und 24 Prozent. Die Schätzung bezieht sich nur auf den US-Markt. Doch die Grössenordnungen sind aussagekräftig, weil auch europäische Firmen vor allem die Produkte amerikanischer Anbieter einsetzen.
Dennoch wollte der französische Präsident Emmanuel Macron im Rahmen des Pariser Gipfels sein Land als Vorreiter präsentieren und kündigte Investitionen in Höhe von mehr als 100 Milliarden Euro an, vor allem für den Aufbau von Rechenzentren. Zwei Tage später zog EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen nach: Die EU werde 200 Milliarden mobilisieren und die eigene «Invest AI»-Initiative um 50 Milliarden Euro aufstocken.
Ob das reicht, um zu den USA aufzuschliessen, die kürzlich 500 Milliarden Investitionen verkündeten, wird sich zeigen.
Gigantische Summen allein entscheiden jedoch nicht darüber, wer bei der Transformation durch KI die Nase vorne hat. Das hat das vergleichsweise günstige Deepseek aus China vor kurzem gezeigt. Neben Geld zählen auch Talent, Rechenkapazität und Daten.
Schweiz verfügt über viel Know-how
Für die Schweiz ist das eine gute Nachricht, denn zumindest in einem dieser Punkte ist sie auf Weltspitzenniveau: dem Talent. Seit Jahren wird hier intensiv an Komponenten gearbeitet, die mittels KI zu Zukunftstechnologien werden: Darunter sind Robotik, maschinelles Sehen und hochrealistische 3D-Computergrafik.
Das führt dazu, dass die Schweiz im KI-Ranking der renommierten Universität Stanford gemessen an der Bevölkerungszahl weiter vorne liegt als Frankreich, Deutschland oder Italien.
Das Tech-Cluster rund um die beiden eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH) in Zürich und Lausanne hat globale Schwergewichte angezogen wie Google, Microsoft, Meta und Nvidia. Auch Apple, Amazon AWS, Huawei, Revolut, Oracle, IBM, Disney, Boston Dynamics und Tiktok haben Niederlassungen in der Schweiz. In ihrem Sog haben sich in den letzten Monaten auch führende KI-Firmen wie Open AI und Anthropic in Zürich angesiedelt.
Darüber, was das der Schweiz neben Steuereinnahmen durch die Angestellten bringt, gehen die Meinungen auseinander. Denn ein Grossteil der Wertschöpfung fliesst direkt in die USA. Gleichzeitig bedrängen sie lokale Tech-Unternehmen. Google und Co. bezahlen Löhne von teils mehreren Hunderttausend Franken im Jahr.
Firmen wie Scandit können da nicht mithalten, sie müssen mit anderen Qualitäten überzeugen. Doch es kommt durchaus vor, dass Topleute die grossen US-Konzerne verlassen, um in der Schweiz eigene Projekte zu gründen oder bei kleineren Firmen anzuheuern.
Schweiz baut vertrauenswürdiges Chat-GPT
Auch technologisch ist die Schweiz im europäischen Vergleich vorne mit dabei, vor allem bei der Grundlagenforschung. Im Oktober haben die ETH Zürich und die EPFL Lausanne ein nationales Netzwerk gegründet, dem 70 Professuren angehören.
Ihr wichtigstes Projekt ist die Swiss AI Initiative, ein 20-Millionen-Franken-Projekt, das Basismodelle entwickelt, die der Schweizer Industrie zugänglich sein werden.
Die Forscherinnen und Forscher sind daran, eine generative KI respektive ein «Large Language Modell» zu bauen – ähnlich wie Chat-GPT oder Deepseek. Noch haben sie keinen Namen für dieses Schweizer Modell. Doch bis spätestens im Sommer wollen sie es veröffentlichen. Das SwissLLM wurde nur mit ausgewählten Inhalten trainiert und soll daher besonders vertrauenswürdig sein. Gerechnet wird unter anderem auf «Alps», einem der weltweit führenden öffentlichen Supercomputer.
Ziel ist, dass etablierte Firmen und Start-ups diese Open-Source-KI für eigene Geschäftsmodelle verwenden werden.
Geld und Daten sind Mangelware
Aus dem Ökosystem rund um die beiden ETH sind in den letzten Jahren bereits diverse Spin-offs hervorgegangen, darunter solche auf Weltklasseniveau. Sie entwickeln KI-Anwendungen etwa für Anwaltskanzleien, die Landwirtschaft oder das Baugewerbe oder nutzen maschinelles Sehen für Robotik oder Drohnen.
Ob sie langfristig erfolgreich sind, hängt oft auch vom verfügbaren Kapital ab, von dem in Europa generell weniger investiert wird als in den USA. Weltweit ist das Risikokapital aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheiten, steigender Inflationsraten und Zinserhöhungen deutlich gesunken. Auch in der Schweiz hat sich das eingesetzte Volumen innert zwei Jahren halbiert.
Muss der Staat etwas dagegen unternehmen? Sollte auch die Schweiz Milliarden in die KI-Technologie investieren? Alexander Ilic, der das KI-Netzwerk der ETH leitet, sagt, es komme langsam der Punkt, wo es gefährlich werde, wenn die Schweiz einfach immer nur zuwarte. «Die Schweiz muss sich klar zu KI bekennen und sich zum Ziel setzen, weltweit führend zu werden.» Dafür müsse sie anfangen, KI in diversen Bereichen einzusetzen, etwa in der Verwaltung, im Gesundheitswesen, bei Nachhaltigkeit und Bildung.
Auch beim wichtigen Erfolgsfaktor Daten steht die Schweiz nicht besonders gut da. KI-Start-ups brauchen Trainingsdaten, um Anwendungen wie beispielsweise für die Krebsdiagnose oder zur Vermeidung von Verkehrsstaus zu entwickeln.
Gerade in der für die Schweiz wichtigen Pharmaindustrie dürfte KI entscheidend werden. Algorithmen können sehr viel schneller als Menschen Moleküle auf ihre potenzielle Eignung als Wirkstoff überprüfen. Und wer einen Wirkstoff zuerst entdeckt, der patentiert ihn und verdient Geld damit.
Spitäler und Ämter in der Schweiz speichern Gesundheits- oder Mobilitätsdaten jedoch in der Regel individuell, und sie zögern, sie anonymisiert herauszugeben. Ganz anders in China: Dort werden solche Daten zentral durch den Staat verwaltet und bereitgestellt.
Entsprechend weit oben, nämlich auf dem zweiten Platz, landet China denn auch im Stanford-Ranking. Ohne den Faktor Bevölkerungsgrösse verschwindet die Schweiz als kleines Land auf dem 21. Rang.
Kritische Stimmen haben es schwer
Sollten wir für künftiges Wirtschaftswachstum unsere Daten hergeben? Ist es wirklich sinnvoll, KI in so grossem Stil zu verwenden, wenn dadurch der Strombedarf massiv steigt und immer mehr Flächen mit Datenzentren zugebaut werden? Was, wenn hier entwickelte KI in Waffen wie Drohnen eingebaut wird? Kritische Stimmen haben es zurzeit schwer.
So hat Google kürzlich die Klausel gestrichen, dass sie KI nicht für Waffen und Überwachungstechnologie freigibt. Anders als im vergangenen Mai, als es in den USA Demonstrationen gab und sich auch in Zürich Google-Angestellte besorgt über die Verwendung von Google-KI-Technologie im Gazakrieg äusserten, ist der Aufschrei aus den Reihen der Google-Leute bisher ausgeblieben.
Firmen und Staaten wollen sich möglichst viele Optionen offenhalten. Auch die Schweiz. Am Mittwoch hat der Bundesrat eine Absichtserklärung veröffentlicht. Demnach soll die Schweiz die Konvention des Europarats ratifizieren, welche die Einhaltung grundlegender Menschenrechte bei der Verwendung von KI vorschreibt, vor allem für staatliche Akteure. Von einer strengen Regulierung, wie sie die EU kennt, ist sie jedoch weit entfernt.
«Der KI werden Werte einprogrammiert»
Dafür gibt es von verschiedenen Seiten Kritik. Die einen sehen die Konvention als Einschränkung von Innovationen, für die anderen geht der zögerliche Ansatz zu wenig weit.
Auch die Sicherheitsforscherin Jennifer Scurrell ist hin- und hergerissen. Sie ist sich der gesellschaftlichen und technologischen Gefahren von KI bewusst. Dennoch steht sie Regulierungen wie dem AI Act der EU kritisch gegenüber. «Die nächsten grossen Entwicklungen bei der künstlichen Intelligenz werden die sogenannten Agenten sein», sagt sie.
Diese stellen nicht nur Informationen bereit, sondern treffen auch selbst Entscheidungen. «Dafür müssen der KI Werte einprogrammiert werden», sagt Scurrell. Europa müsse entscheiden, ob es da selbst vorne mit dabei sein wolle oder lieber die Modelle aus anderen Kontinenten nutzen – mit deren Werten.
Von der Geschwindigkeit überrascht
Bis die Schweiz entscheidet, wie sie KI regulieren will, wird es laut Plan des Bundes mindestens drei Jahre dauern. Derweil entwickelt sich KI rasend schnell. So schnell, dass sogar Christof Roduner, der seit bald 30 Jahren im Tech-Geschäft ist, ins Staunen kommt.

Das neueste Schlagwort in der Szene sei Vibe-Coding und habe ihn total verblüfft, sagt der Scandit-Mitgründer. Dabei würden Programmierer Prompts nicht mehr tippen, sondern mit ihrem Computer sprechen, fast wie mit einem menschlichen Designer.
Ein Entwickler könne vom Computer beispielsweise verlangen, dass er ihm eine ganze Shopping-App baue. «Dann drückst du Enter, das Ding rattert einige Minuten, spuckt den Code aus, und du hast eine ganze App!» Diese könne man auf einfache Weise mit weiteren Befehlen verändern.
Zwar ist Vibe-Coding nicht für komplexe Anwendungen wie Scandit einsetzbar, sondern nur für einfache Software-Projekte, bei denen Teams bisher in zwei bis drei Wochen eine App gebaut haben.
Dass heutige Modelle in Minuten schaffen, woran Firmen wie Scandit jahrelang mit viel Einsatz von Geld und Zeit getüftelt haben, macht Roduner Sorgen – aber nicht allzu grosse.
Denn im Tech-Bereich könnten sich auch etablierte Firmen wie seine sowieso nicht auf dem Erreichten ausruhen. Und bei KI sei einfach «extrem eindrücklich, wie schnell es vorwärtsgeht».
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