Interview über Tech-Wettbewerb«Die Schweiz und Europa sind heute Kolonien der USA»
Wir hätten den Eintritt ins Tech-Zeitalter total verschlafen, sagt Proton-Chef Andy Yen. Durch die Abhängigkeit von Google, Microsoft und Apple sei Europa erpressbar geworden.
![Andy Yen, CEO von Proton Technologies, blickt aus einem Fenster eines Bürogebäudes in Zürich, im Hintergrund der Prime Tower.](https://cdn.unitycms.io/images/3baQ-mC7qv9BFkS_ZK8SHN.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=cPYa_8EvDtQ)
Beim Treffen in Zürich kommt Andy Yen gerade aus Brüssel. Der Chef und Gründer der Schweizer Techfirma Proton war eingeladen, vor EU-Politikern die Gründe zu schildern, warum Europa im globalen Wettstreit um Tech und künstliche Intelligenz den USA massiv hinterherhinkt.
Yen ist in Taiwan geboren, ging in den USA zur Schule und wohnt seit seinem Studium in Genf, deshalb kennt er alle drei Perspektiven: die chinesische, die amerikanische und die europäische.
Der heute 35-jährige Physiker gründete im Jahr 2014 Protonmail, ein Ende-zu-Ende-verschlüsseltes E-Mail-Programm. Das Geschäftsmodell der Proton AG, die mittlerweile eine Palette weiterer privatsphäregeschützter Dienste anbietet, stützt sich nicht auf den Verkauf von Nutzerdaten, sondern auf Nutzungsgebühren. Die Firma hat 100 Millionen Kunden und beschäftigt 500 Angestellte in Genf, London, Skopje, Taipeh, Vilnius, Prag, Barcelona und Paris.
Herr Yen, in der EU sind nur ein Dutzend Firmen mehr wert als 10 Milliarden Dollar – in den USA sind es 240. Woher kommt der riesige Unterschied?
Mit ihrer starken Industrie war Europa lange Zeit der weltweit führende Wirtschaftsraum. Die Produktion von Eisen, Stahl und Autos sowie die Stromerzeugung waren das wirtschaftliche Rückgrat der letzten 150 Jahre. Seit Beginn der 2000er-Jahre zeichnet sich hingegen ab, dass nicht die Industrie, sondern Tech der Hauptmotor für Wirtschaftswachstum im 21. Jahrhundert ist. Das hat Europa total verschlafen.
Wie konnte das passieren?
Die Tech-Revolution begann in den USA, Europa war spät dran und hat die Prioritäten falsch gesetzt. Doch statt selbst zu investieren, kaufte Europa Technologie lieber billig von ausländischen Firmen ein. Kurzfristige Kosteneinsparungen waren wichtiger als die Frage, was für den Kontinent strategisch langfristig wichtig wäre.
Die Schweiz auch? Es heisst doch, die Schweiz sei führend im Tech-Bereich – dank Tausenden Entwicklern von Google, Meta, Nvidia, Boston Dynamics. Seit kurzem haben auch Open AI und Tiktok Büros in der Schweiz.
In der Schweiz ist dank der EPFL Lausanne und der ETH Zürich ein Umfeld entstanden, das grosse Techkonzerne anzieht und immer wieder Spin-offs auf Weltklasseniveau hervorbringt. Doch ich meine etwas anderes: Tech-Überflieger wie Open AI oder Deepseek entstehen nicht in Europa, sondern in den USA oder in China.
Was ist das Problem?
Schauen Sie sich an, wo die Schweiz oder andere europäische Regierungen ihre Systemlösungen einkaufen. Woher beziehen sie ihre Cloud-Infrastruktur, ihre Mail- und Textverarbeitungsprogramme? Von amerikanischen Firmen wie Microsoft, Google und Amazon. Die Schweiz und Europa sind heute Kolonien der USA. Vor 150 Jahren war es umgekehrt: Wir Europäer unterhielten diverse Kolonien rund um den Globus. Wir gingen beispielsweise nach Indien, förderten dort wertvolle natürliche Ressourcen zu niedrigen Kosten und produzierten hochwertige Güter, die wir den Indern dann verkauften. Genau das tun heute die Amerikaner. Sie fördern unsere wertvollen Ressourcen – also die persönlichen Daten – zu sehr niedrigen Kosten, verkaufen sie dem Werbemarkt und ermöglichen so ihren Kunden, für Tech-Dienstleistungen nichts oder nur wenig bezahlen zu müssen.
Wie konnte es so weit kommen?
Europa geht von einer falschen Prämisse aus. Wir glauben, wenn wir uns gegenüber Amerikanern und Chinesen fair verhalten, behandeln sie uns ebenfalls fair. Aber das ist eine realitätsfremde Vorstellung. Europäische Firmen haben heute keinen freien Zugang zur chinesischen Wirtschaft. China schreibt vor, dass alle Arten von Industriegeschäften nur von chinesischen Unternehmen oder Joint Ventures mit chinesischer Beteiligung getätigt werden dürfen. In den USA gibt es zwar kein solches Gesetz, doch einen sehr ausgeprägten «first mover advantage» – also einen Wettbewerbsvorteil für den Marktpionier. Dadurch sind europäische Firmen wie Proton de facto auch vom amerikanischen Markt ausgeschlossen. Wenn die beiden weltweit grössten Märkte europäische Firmen aussperren: Warum genau sollte sich Europa fair verhalten? In China gilt seit je «China first», und in den USA gilt mit Trump 2.0 erneut «USA first».
Sie sagen, Europäer seien naiv?
Nicht naiv, sondern dumm. In Europa von «Europe first» zu reden, ist fast schon tabu. Stattdessen wurde in den vergangenen 30 Jahren ein «Europa zuletzt» verfolgt, mit der Folge, dass die heimische Tech-Industrie, unsere eigenen Tech-Champions, vernichtet wurden. Wir brauchen einen Sinneswandel. Wir dürfen uns nicht dafür schämen, unsere Industrien gezielt hier aufzubauen.
![Andy Yen, CEO von Proton, im Sitzungsraum des Unternehmens in Plan-les-Ouates, mit Wanddekoration und Tischfussballspiel im Hintergrund.](https://cdn.unitycms.io/images/CPk97UPJ4gZ9NSY4P6dUkd.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=ad3YfyOU2NA)
Wie zeigt sich diese Abhängigkeit von Tech?
Sie kann uns im Extremfall erpressbar machen. Nehmen wir das Beispiel der Dänen, die sich jetzt Sorgen um Grönland machen. Trump hat angekündigt, Dänemark mit hohen Zöllen zu bestrafen oder möglicherweise sogar Soldaten zu schicken, um Grönland zu übernehmen. Im Grunde aber muss er gar nicht so weit gehen. Trump muss nur einen Befehl unterzeichnen, der besagt, dass Google, Apple, Meta, Microsoft und Amazon ihre Dienste in Dänemark einstellen werden, wenn Grönland nicht ab morgen den USA übergeben wird. Diese Drohung würde die Dänen noch am selben Tag ihre eigene Kapitulation unterzeichnen lassen.
Diese Überlegungen haben Sie letzte Woche den EU-Funktionären so vorgetragen, also auch EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen. Richtig?
Ja, wobei Frau von der Leyen nicht anwesend war. Sie hatte sich entschuldigt, denn gleichzeitig fand in Deutschland ein Treffen mit Vertretern der Automobilindustrie statt. Ich will Frau von der Leyen nicht kritisieren, doch dieses Beispiel zeigt deutlich, wo sie ihre Schwerpunkte setzt. Ursula von der Leyen beschäftigt sich mit dem Europa der Vergangenheit statt mit dem Europa der Zukunft. Das ist vollkommen verständlich, denn ihre Generation ist die Nachkriegsgeneration und hat deshalb eine ganz andere Perspektive. Aber es zeigt auch die Unbeweglichkeit, die manchmal in Brüssel herrscht.
Sie sprechen von einem «Sinneswandel». Braucht es diesen auch in der Schweiz?
Es gibt viele ambitionierte Techfirmen in der Schweiz und in Europa, die versuchen, grossartige Firmen aufzubauen. Alles Nötige ist da, was uns aber tatsächlich fehlt, ist die Nachfrage. Der Weg führt über die öffentliche Beschaffung. Regierungen, öffentliche Einrichtungen und vielleicht sogar bestimmte Firmen müssen gesetzlich verpflichtet werden, europäische Technologien einzukaufen.
Machen Sie ein Beispiel?
Warum kaufen europäische Schulen heute Technologie von amerikanischen Unternehmen? Warum machen wir die nächste Generation von Europäern mit amerikanischer Technologie vertraut und binden sie an ihre Ökosysteme? Ähnliches gilt für Spitäler. Warum trauen wir ihnen unsere sensiblen Gesundheitsdaten an?
Der Bund und die Schweizer Firmen kaufen Tech-Produkte aus dem Silicon Valley, weil sie günstig, schnell und einfach bedienbar sind – und es in Europa keine ebenbürtige Software gibt.
Selbst wenn das wahr wäre: Wir müssen strategisch langfristig denken und jetzt investieren, um für die Zukunft ein europäisches Technologiepaket aufzubauen. Europa muss die Hoheit über die Technologie zurückerhalten.
Proton würde stark davon profitieren, wenn Schweizer Behörden gezwungen wären, «Tech aus der Region» einzukaufen. Verfolgen Sie damit einfach Ihre Geschäftsinteressen?
Wir sind eine nicht profitorientierte Firma mit einer Stiftung als Trägerschaft. Mir geht es darum, aufzuzeigen, wie sich die kurzfristigen Kosteneinsparungen langfristig auf das Wachstum von Europa auswirken. Dazu braucht es keine Subventionen und auch keine Steuererleichterungen, sondern eine Nachfrage. Sie bringt Wertschöpfung, und das zieht Geld an.
Die EU versucht, mit dem Digital Markets Act sowie weiteren Regulierungen gegen US-Techfirmen vorzugehen. Warum reicht das nicht?
Der Digital Markets Act ist ein gangbarer Weg – vielleicht auch für die Schweiz. Als jemand, der in Umsätzen und Kennzahlen denkt, schätze ich jedoch die Effekte auf das Wirtschaftswachstum als nur sehr gering ein. Bei Regulierungen geht es einfach lange, bis sie wirksam werden.
Was sollte die Schweiz tun?
Der effektivste Weg, um Tech zu fördern, ist es, auf den Kauf von Schweizer Produkten zu drängen und Mandate für die öffentliche Beschaffung entsprechend auszuschreiben. Für die Schweiz könnte das sogar zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden: Wenn sie vorangeht und einen sehr starken heimischen Technologiesektor aufbaut, werden Europäer in 10 Jahren hier ihre Tech-Services einkaufen. Der Gewinner der europäischen Neuausrichtung wird das erste Land sein, das mutig genug ist, den Einkauf von lokalen Tech-Dienstleistungen gesetzlich vorzuschreiben.
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