10 Jahre in Corine Mauchs Stab«Gegen den autoritären Backlash»: SP-Nationalrätin Céline Widmer will in den Zürcher Stadtrat
Die parteiinterne Ausmarchung verspricht Hochspannung: Auch Céline Widmer tritt an – und will mit ihrer Erfahrung in Stadt, Kanton und Bund punkten.

- Die Nationalrätin will ihre politische Erfahrung künftig direkt in Zürich einsetzen.
- Widmer sieht Zürich als progressives Gegenmodell zu reaktionären Tendenzen.
- Nach zehn Jahren im Stab der Stadtpräsidentin kennt sie die Verwaltungsabläufe.
Die Ausgangslage für die Stadtratswahlen vom März 2026 klärt sich weiter. Kurz vor Ende der Bewerbungsfrist am 20. April kündigt auch SP-Nationalrätin Céline Widmer offiziell ihre Kandidatur für einen Sitz im Zürcher Stadtrat an: «Ja, ich will Stadträtin werden», sagt die 46-jährige Politologin im Gespräch mit dieser Redaktion. Auf eine Kandidatur für das Stadtpräsidium verzichtet sie.
Doch warum will Widmer, die seit 2019 im Nationalrat sitzt, von der nationalen in die lokale Politik wechseln? «Zürich ist keine Insel», sagt sie. Die grossen Herausforderungen unserer Zeit – von der sozialen Spaltung bis zum Klimaschutz – liessen sich nur lösen, wenn Stadt, Kanton und Bund zusammenspielten. Wenn der Kanton die Stadt blockiere, wie beispielsweise bei Tempo 30, komme man nicht weiter.
Zürich soll «offen, mutig solidarisch» bleiben
Sie kenne die drei Ebenen Stadt, Kanton und Bund aus eigener Erfahrung, sagt Widmer. Zudem wisse sie, wie man Allianzen schmiede, Kompromisse mit dem politischen Gegner aushandle und konkrete Verbesserungen möglich mache. Diese politische Erfahrung und ihr Netzwerk wolle sie künftig dort einsetzen, wo sie direkt Wirkung zeigten: in Zürich.
Sie liebe diese Stadt, sagt Widmer, die im Kreis 4 wohnt. Zürich sei «offen, mutig, solidarisch – und soll das auch bleiben». Gerade jetzt, wo vielerorts ein «autoritärer Backlash tobt», brauche es Städte, die Haltung zeigten, handelten und die Zukunft progressiv gestalteten. Dafür trete sie an. Zürich sieht sie als ein Gegenmodell zu den aktuellen reaktionären Tendenzen: «demokratisch, gerecht, europäisch».
«Ja, die ‹Arena›-Auftritte…»
Widmer gehört im Nationalrat der Wirtschaftskommission und der Staatspolitischen Kommission an. Diesen Einfluss auf die nationale Politik würde sie als Stadträtin verlieren. «Ja, die ‹Arena›-Auftritte im TV werde ich vermissen», meint sie halb im Scherz. Doch eine Zürcher Stadträtin könne viel bewirken und das Leben der Menschen direkt verbessern, ist sie überzeugt. Zudem könne Zürcher Politik auch über die Stadt hinaus Wirkung erzielen, etwa als Schrittmacherin und Innovationslabor.
Widmer erinnert an die Fortschritte in der Drogenpolitik Mitte der 1990er-Jahre oder an die laufenden Diskussionen auf nationaler Ebene um Verbesserungen bei der Finanzierung von Betreuungsleistungen im Alter. Hier habe die Stadt Zürich ein Pilotprojekt lanciert, das Kanton und Bund später aufgenommen hätten. Weitere Beispiele für die Schrittmacherrolle der Stadt sieht Widmer beim genossenschaftlichen Wohnungsbau oder bei autofreien Quartieren.
Ein Verzicht, der Fragen aufwirft
Céline Widmer galt als Kronfavoritin für die Nachfolge von Corine Mauch, zumal sie von 2014 bis 2024 im Stab der Stadtpräsidentin arbeitete, wo sie sich unter anderem um das Projekt der dezentralen Landesausstellung Nexpo kümmerte. Doch unmittelbar nach der Rücktrittsankündigung von Corine Mauch und André Odermatt Anfang März gab Widmer überraschend bekannt, dass sie bei der Kandidatur ums Stadtpräsidium Raphael Golta den Vortritt lasse.
Der Verzicht sei ein «rein persönlicher Entscheid» gewesen, sagt Widmer. Es habe im Vorfeld keine Absprachen oder Anweisungen der Partei gegeben. Sie habe sich die Frage gut überlegt und sei zum Schluss gekommen, dass sie gerne konkrete Probleme anpacken möchte, sei es beim Thema Wohnen, beim klimaschonenden und sicheren Verkehr, bei der integrativen Schule oder bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit. Das könne sie in einem Departement besser als im Stadtpräsidium, das viele Repräsentationsaufgaben mit sich bringe.
Spätere Präsidiumskandidatur «nicht ausgeschlossen»
Es freue sie aber, dass ihr das Stadtpräsidium offenbar zugetraut werde, sagt Widmer. Sie habe viele Zuschriften erhalten und sei selbst von einer Bundesrätin zur Kandidatur fürs Stadtpräsidium ermutigt worden. «Ich schliesse diese darum für die Zukunft nicht aus.»

Und was hält sie davon, dass SP-Kantonsrätin Mandy Abou Shoak ihre Ambitionen fürs Stadtpräsidium angemeldet hat? «Ich freue mich, dass so viele starke Menschen kandidieren, das zeigt, wie lebendig die SP ist», gibt sich Widmer diplomatisch. Vielfalt sei für die SP wichtig, habe aber viele Facetten, dazu gehörten Geschlecht, Migrationshintergrund, aber auch die soziale Herkunft oder der Bildungsweg.
Auch sie bringe etwas Einzigartiges mit, sagt Widmer. Sie komme aus einer Familie, in der man es sich «nicht vorstellen konnte, dass einmal jemand im Nationalrat oder im Stadtrat sitzen könnte». Ihre Mutter habe als Bauerntochter nur acht Jahre die Schule besuchen können.
Sie selber habe zudem mit einer Lehre als Tontechnikerin und anschliessendem Studium der Politikwissenschaften einen unkonventionellen Berufsweg. Zudem habe sie Kinder im schulpflichtigen Alter, was im Stadtrat auch eher selten sei. Widmer lebt getrennt vom Vater der Kinder, die beiden teilen sich die Betreuung.
Zu weit weg von der städtischen Politik?
Fehlt ihr nicht die Nähe zur städtischen Politik, weil sie in den vergangenen Jahren in Bern politisierte? Widmer kontert, sie habe zehn Jahre im Stab der Stadtpräsidentin gearbeitet, direkt an der Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung. Sie wisse, wie die Verwaltung funktioniere und wie der Stadtrat ticke, und sie kenne eben auch die Spielregeln auf kantonaler und nationaler Ebene.
Als Erfolg ihrer Politik für Zürich erwähnt Widmer ihr Engagement im Kantonsrat für einen gerechteren Soziallastenausgleich, dem die Stimmbevölkerung 2020 zustimmte. Beim Kasernenareal habe sie zudem bewirkt, dass die gesamte Kantonspolizei ins Polizei- und Justizzentrum zügeln musste und die grosse Kasernenwiese ganz für die Öffentlichkeit zugänglich wurde. Widmer sass von 2012 bis 2019 im Kantonsrat.
Bei der Frage, welches Departement sie im Falle einer Wahl am liebsten übernehmen würde, lässt sich die Nationalrätin nicht in die Karten blicken: «Wer in der Schweiz für ein Exekutivamt kandidiert, muss bereit sein, jedes Departement zu übernehmen», sagt Widmer. Sie habe «viele Ideen, was man angehen könnte». Allerdings muss sie es zuerst aufs SP-Ticket schaffen.
Alijaj und Luzhnica sagen ab
Am 26. Juni entscheiden die SP-Delegierten, wen sie für den Stadtrat und das Stadtpräsidium portieren. Die bisherigen SP-Stadtratsmitglieder Simone Brander und Raphael Golta treten erneut an. Ihre Ambitionen für die zwei frei werdenden SP-Sitze bereits bekannt gegeben haben nebst Widmer auch Kantonsrätin Mandy Abou Shoak, Kantonsrat Tobias Langenegger sowie Gabriela Rothenfluh, Präsidentin der Kreisschulbehörde Waidberg.
Abgesagt haben unter anderen Gemeinderat Reis Luzhnica und Nationalrat Islam Alijaj.
Die SP will nach den Osterfeiertagen über die definitiven Kandidaturen informieren.
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