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Gleiche Regeln für alle
Gewerbe sorgt sich um GAV: «Die Situation ist dramatisch»

Lernende schneidet Haaren und Frisieren eine Kundin unter Aufsicht eine Lehrbetreuungspersonen in der Coiffina Geschaeft  am 29. Mai 2019 im Einkaufszentrum Glatt in Wallisellen. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
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Den Umgang, den Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Schweiz miteinander pflegen, kennt man im Ausland kaum. Im Rahmen der sogenannten Sozialpartnerschaft verhandeln die jeweiligen Organisationen miteinander, ohne dass der Staat sich daran beteiligt.

Daraus entspringen dann nicht nur Vertragswerke zu Löhnen, Arbeitszeiten oder Sicherheitsvorkehrungen. Je nach Branche wird in diesen Verhandlungen auch festgelegt, wie die Einhaltung der Regeln kontrolliert wird oder die Frühpensionierung ganzer Berufsgruppen erfolgt.

Verschiedene Pfeiler der Sozialpartnerschaft der letzten Jahrzehnte wackeln nun jedoch: Die Wirtschaftskommission des Nationalrats beschäftigt sich in diesen Monaten mit der Frage der Quoren für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Gesamtarbeitsverträge und erwägt Anpassungen in alle möglichen Richtungen. Die Sache ist komplex und für verschiedene Gewerbebranchen existenziell.  

Das Herzstück der Sozialpartnerschaft sind die Gesamtarbeitsverträge, kurz GAV, in denen die eingangs erwähnten Themen festgeschrieben werden können. Ein GAV kann für eine oder mehrere Firmen gelten – oder auch für die ganze Branche, selbst wenn viele der Firmen nicht im unterzeichnenden Arbeitgeberverband organisiert sind. Man spricht dann von Allgemeinverbindlichkeit.

Diskussion über zwei Quoren

Ob ein GAV für allgemeinverbindlich erklärt werden kann, ist gesetzlich geregelt. Dafür müssen unter anderem drei Quoren erreicht werden: Erstens muss mehr als die Hälfte aller Firmen im Verband organisiert sein, der den GAV ausgehandelt hat. Zweitens müssen diese Firmen mehr als die Hälfte aller Angestellten der Branche beschäftigen; man nennt dies das gemischte Quorum. Und drittens muss mehr als die Hälfte der Angestellten in der Branche bei den unterzeichnenden Gewerkschaften organisiert sein.

Im Fokus der Diskussion stehen das erste und das dritte genannte Quorum. Verschiedene Arbeitgeberverbände bekunden grosse Mühe, die nötige Anzahl Mitgliedsfirmen auf sich zu vereinen. Die Gewerkschaften ihrerseits kämpfen in vielen Branchen mit einem Mitgliederschwund, obwohl gleichzeitig die gesamte Anzahl Arbeitnehmender zunimmt.

«Die Situation ist dramatisch», sagt Andreas Furgler, Geschäftsführer des Plattenverbands, dem knapp 400 Plattenlegerfirmen angeschlossen sind. Diese vereinen drei Viertel der Angestellten in der Branche auf sich; das gemischte Quorum erreichen sie also problemlos. Allerdings erfüllt der Verband das erste Quorum, genannt Arbeitgeberquorum, nur hauchdünn. Er kämpft ständig darum, die 50-Prozent-Marke zu erreichen.

Ähnlich wie den Plattenlegern geht es den Coiffeuren. «Wir müssen enorme Mittel und Energie darauf verwenden, genügend Firmen im Verband zu haben», sagt Damien Ojetti, Zentralpräsident des Verbands Coiffure Suisse.

Furgler, Ojetti und Vertreter anderer Arbeitgeberverbände des Gewerbes haben darum im Februar Briefe an Wirtschaftsminister Guy Parmelin geschrieben und eine Senkung des Arbeitgeberquorums gefordert. «Das wirtschaftliche Umfeld hat sich in den letzten Jahren stark verändert», erklären die Coiffeure in ihrem Brief ihre Schwierigkeiten mit der seit 1956 gleichlautenden Gesetzgebung. «Die Anzahl der Mikro- und Kleinunternehmen mit weniger als zehn Angestellten hat in fast allen Branchen zugenommen. Wenn die Zahl zunimmt, aber jene der Verbandsmitglieder stabil bleibt [...], sinkt der Anteil der organisierten Firmen.»

Insbesondere in Branchen mit tiefen Eintrittsschwellen hat die Anzahl kleiner Firmen in den vergangenen Jahren deutlich stärker zugenommen als jene grösserer Firmen. Dazu zählen neben der Coiffeur- oder der Plattenleger-Branche zum Beispiel auch die Maler und Gipser oder die Reinigung. Dort braucht es keine grossen Investitionen oder fachlichen Qualifikationen, um ein Geschäft zu eröffnen. 

Mindestlöhne gegen Auslandskonkurrenz

Auch als Folge der Migration in die Schweiz wurden hier viele Firmen eröffnet, die unter teilweise prekären Bedingungen wirtschaften. Gemäss Furgler und Ojetti interessieren sich die Geschäftsinhaber in den allermeisten Fällen nicht für die Mitgliedschaft in den Branchenverbänden und deren Tätigkeiten.

Dabei sind GAV oft die Basis für das Ausbildungssystem einer Branche. Üblicherweise wird allen angeschlossenen Angestellten ein kleiner Betrag vom Lohn abgezogen, mit dem die Arbeitgeberorganisationen die Berufsschulen finanzieren. Ebenso wichtig für die Arbeitgeber ist die Friedenspflicht, dass die Arbeitnehmer also nicht streiken dürfen, solange sie dem GAV unterstehen. 

Die Mindestlöhne, für welche die GAV vor allem im öffentlichen Bewusstsein sind, sind zudem auch für die Arbeitgeber willkommen: Ist ein allgemeingültiger GAV in Kraft, müssen sich auch ausländische Firmen daran halten, wenn sie Aufträge in der Schweiz ausführen. Das System schützt also den Schweizer Werkplatz. Für Andreas Furgler vom Plattenverband ist darum klar: «Wenn die Politik an diesen starren Quoren festhält, gefährdet sie die Allgemeinverbindlichkeit unseres GAV. Damit würde sich die Schweiz ins eigene Knie schiessen.»

Arien Deli (R), Plattenleger, Lehrling, Ausbildung, Jonathan Murrer (L), Vorarbeiter, Baustelle in Allschwil, Citton AG, Im Wasenboden 8, Basel, 21. September 2016, Foto Christian Jaeggi

Allerdings sind nicht alle Arbeitgeber dieser Meinung. Stefan Brupbacher, Direktor des Maschinenindustrie-Verbands Swissmem, hält zwar allgemeingültige GAV in Branchen mit hohem ausländischen Konkurrenzdruck für sinnvoll. «Wenn wir jetzt jedoch die Hürden für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung generell senken, werden noch mehr Firmen gegen ihren Willen unter einen GAV gezwungen. Damit schädigen wir den grundsätzlich flexibel gestalteten Arbeitsmarkt der Schweiz.»

In der Schweiz arbeiten gut zwei Millionen Angestellte unter einem GAV. Das ist knapp jede oder jeder zweite, was im europäischen Vergleich wenig ist. Ein Grund dafür ist das Arbeitgeberquorum, das sonst so nirgendwo mehr besteht. Gesamthaft existieren knapp 600 GAV, wovon der Bundesrat 66 für allgemeinverbindlich erklärt hat. Etwa die Hälfte der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen gilt bundesweit, der Rest bloss für einzelne oder mehrere Kantone.

Während das Arbeitgeberquorum fix ist, erlaubt das Gesetz «ausnahmsweise  (...) bei besonderen Verhältnissen» Abweichungen vom Arbeitnehmerquorum. Der Bundesrat macht davon bei 48 der 66 allgemeinverbindlichen GAV Gebrauch. Dies ist nötig, weil teilweise nur 5 (Bundesebene) oder 2 Prozent der Angestellten in der Gewerkschaft organisiert sind, die den entsprechenden GAV ausgehandelt hat.

Handelt es sich bei diesem hohen Anteil noch um Ausnahmen? Schaute man nur auf die Anzahl gewährter Ausnahmen, dürfte «der Bundesrat nach einer gewissen Anzahl der Gewährung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung mit Ausnahmeregelung keine weiteren gewähren», begründet das Staatssekretariat für Wirtschaft die Praxis. «Dies würde zu einer Ungleichbehandlung der Branchen führen.»

Minderheiten bestimmen über Mehrheiten

Thomas Burgherr, Aargauer SVP-Nationalrat und Mitglied der Wirtschaftskommission, reicht das als Begründung nicht. Er hat einen Antrag gestellt, dass Ausnahmen nur noch gewährt werden dürfen, wenn die unterzeichnenden Gewerkschaften mindestens 40 Prozent aller Angestellten repräsentieren. Damit würde eine grosse Zahl der GAV ihre Allgemeinverbindlichkeit verlieren.

Das Hauptargument für den Vorstoss ist für Burgherr, dass im aktuellen Zustand Minderheiten über Mehrheiten bestimmten. Das schade langfristig der Legitimation der Sozialpartnerschaft. Das Gegenargument lautet, dass die Sozialpartner jeweils detailliert begründen müssen, warum sie eine Ausnahme beantragen. Im Zentrum steht jeweils, dass eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung im öffentlichen Interesse sein muss – also zum Beispiel die Schweizer Volkswirtschaft vor den Folgen des liberalisierten europäischen Arbeitsmarkts schützt.

Es handelt sich dabei um ein Anschauungsbeispiel für einen immer wieder auftretenden Zielkonflikt in der Politik: Ordnungspolitik gegen Pragmatismus, Demokratie-Lehrbuch gegen ergebnisorientiertes Durchwursteln. Nach ersten Anhörungen Ende Juni will sich die Nationalratskommission Ende Jahr wieder mit dem Thema befassen.