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Meinung

Analyse zur Eskalation in Nahost
Israel blamiert die Führung in Teheran

TOPSHOT - Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu acknowledges Israeli soldiers while addressing a joint meeting of Congress at the US Capitol on July 24, 2024 in Washington, DC. (Photo by ROBERTO SCHMIDT / AFP)
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In Israel dürften sich die entscheidenden Personen in Regierung, Militär und Geheimdienst derzeit gegenseitig auf die Schulter klopfen. Erst der Luftschlag durch Kampfjets gegen einen der wichtigsten Hizbollah-Führer in Beirut am Dienstagabend; möglicherweise ist der Raketenkommandant Fuad Schukr tot oder zumindest verletzt. Und selbst wenn nicht, bleibt es ein symbolischer Erfolg in Israels Kampf gegen die «Achse des Widerstands».

Und dann, weit spektakulärer und weit wichtiger: Der Tod des Hamas-Auslandschefs Ismail Haniya. Ein Luftangriff in derselben Nacht auf sein Gästehaus mitten in Irans Hauptstadt Teheran. Und das kurz nach der feierlichen Amtseinführung des neuen Staatspräsidenten der Islamischen Republik. Die Teheraner Führung, allen voran ihr geistlicher Führer Ayatollah Ali Khamenei, sie sind bis auf die Knochen blamiert.

«Es wird eine harte Bestrafung geben»

Soweit man in diesem blutigen Geschäft überhaupt noch von Blamage sprechen kann, sieht es so aus: Khamenei kann einen seiner wichtigsten Verbündeten nicht einmal im eigenen Land, auf eigenem Staatsgebiet, ja mitten in der eigenen Hauptstadt vor dem verhassten israelischen Erzfeind schützen. Das erfordert nicht nur in der nahöstlichen Logik entsprechend harte Vergeltung. Khamenei hat Israel denn auch schon öffentlich Rache geschworen: «Das kriminelle zionistische Regime hat unseren Gast in unserem Haus ermordet», wird er von Nachrichtenagenturen zitiert. «Es wird eine harte Bestrafung geben.»

Die Reaktion der Iraner und der Hizbollah wird also nicht lange auf sich warten lassen. Sie wird aller Voraussicht nach übel ausfallen. Einen Vorgeschmack für solch ein Hochrisiko-Geplänkel gab es Mitte April. Nachdem israelische Kampfjets das iranische Botschaftsgelände in der syrischen Hauptstadt Damaskus bombardiert und dabei mehrere dort tagende iranische Offiziere getötet hatten, schossen Teherans Raketenkanoniere rund 300 Langstreckengeschosse und Drohnen auf den jüdischen Staat ab.

Die Geschosse flogen rund 1500 Kilometer weit. Dieser unerhörte iranische Gegenschlag war der erste direkte Angriff der Islamischen Republik auf Israel überhaupt. Und die hochmoderne israelische Luftabwehr war offenbar davon überfordert. Die Attacke konnte nur mit Unterstützung von US-Jets in der Region und auf Navy-Schiffen im Roten Meer und im Mittelmeer abgewehrt werden. Briten und die Jordanier unterstützten Israel ebenfalls beim Abschuss all der iranischen Raketen und Drohnen. Einige Geschosse landeten dennoch – zum Entsetzen der Israelis – auf dem Boden ihres Landes. (Lesen Sie hier die aktuellen Entwicklungen zum Krieg in Nahost.)

Das Ausmass und die Qualität des Angriffs mögen manche verwundert haben. Aber schliesslich hatte Israel mit dem Luftangriff zuerst iranisches Territorium attackiert – Botschaften und Konsulate im Ausland gelten als direktes Staatsgebiet des jeweiligen Entsendelandes. Da war Vergeltung selbstredend. Was nun nach dem Angriff auf Teheran zu erwarten ist? Möglich wäre ein sehr genau kalkulierter, begrenzter Gegenschlag. Aber seit dem iranischen Raketenangriff vom April ist ein Weniger an militärischer Gewalt vonseiten der Islamischen Republik nur schwer vorstellbar.

Auch Teheran und die Hizbollah stehen vor einem Dilemma

Dass ein erneuter iranischer Angriff auf Israel – in Kombination mit einer Attacke der durch den Beiruter Luftschlag gedemütigten Hizbollah – im Handumdrehen zu einem grossen Nahostkrieg führen kann, wissen alle Beteiligten – auch der Iran und die Hizbollah. Nach Einschätzung des israelischen Analysten Avi Melamed stehen sie vor einem «quälenden Dilemma» – so zitiert ihn die Nachrichtenseite al-Arabiya. Sie können eigentlich nur noch alles falsch machen. Ihre eigenen Leute erwarten den angekündigten Gegenschlag. Dann aber gerät die Lage vollends ausser Kontrolle.

A worker clears debris one day after the Israeli military struck a building in Beirut's southern suburbs on July 31, 2024. Concerns grew among Israelis on July 31 over the fate of dozens of hostages still held captive in Gaza following the killing of Hamas chief Ismail Haniyeh in Tehran. Hamas and the Iranian Revolutionary Guards announced that Haniyeh, 61, had been killed in Tehran in an Israeli air strike. (Photo by Anwar AMRO / AFP)

Die Atommacht Israel und die Fast-Atommacht Iran mit ihrem riesigen Raketenarsenal stünden sich direkt gegenüber, dazu all die proiranischen Milizen in den arabischen Nachbarstaaten. Vor diesem nahöstlichen Apokalypse-Szenario warnen die USA, die europäischen und auch die meisten arabischen Staaten Jerusalem seit Monaten.

Dass Israel in derartig existenziellen Situationen meist sehr grosse Risiken eingeht, ist allen Seiten bekannt. Die Regierung und das Militär sind offenbar weiter bereit, aufs Ganze zu gehen – das zumindest zeigen die Angriffe von Teheran und Beirut. Neben dem militärischen Tagesgeschäft hat Israel seine in Teilen verlorene Abschreckungsfähigkeit im Hinterkopf.

Vom Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober wurden die modernste und schlagkräftigste Armee des Nahen Ostens und die angeblich unschlagbar kaltblütigen Geheimdienste des Landes quasi im Tiefschlaf überrascht. Die Regierung und das für seinen rücksichtslosen Verteidigungswillen berüchtigte Land waren angesichts des Terrorüberfalls fast einen Tag lang gelähmt, die militärischen Strukturen reagierten zu langsam.

1200 Soldaten und Zivilisten starben am 7. Oktober in den Kibbuzim und Städtchen, selbst ein hippes Tanzfestival wurde nicht verschont. Rund 250 Menschen – unter ihnen Frauen, Kinder und gebrechliche Senioren – wurden anschliessend als Geiseln nach Gaza verschleppt. Ein Teil von ihnen wurde später gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht, aber die anderen Gefangenen sitzen noch immer im umkämpften Gaza oder sind bereits tot. Und die Hamas ist trotz fast 40’000 toten Palästinensern – gut zwei Drittel davon Zivilisten – noch lange nicht geschlagen, sie kämpft im sandigen Untergrund von Gaza weiter.

CORRECTS TITLE OF THE PERSON - Members of Tehran University Council attend a protest to condemn the killing of Hamas political chief Ismail Haniyeh as a man holds his picture at the University, in Tehran, Iran, Wednesday, July 31, 2024. Haniyeh, Hamas' political chief in exile was killed in an airstrike in the Iranian capital early Wednesday. (AP Photo/Vahid Salemi)

Aus israelischer Sicht gilt also weit über den laufenden Gazakrieg und den seit dem 7. Oktober auf kleinerer Flamme vor sich hin köchelnden Konflikt mit der Hizbollah hinaus: Die Abschreckungsfähigkeit des Landes – und damit die Sicherheit seiner Bürger – müssen um jeden Preis wiederhergestellt werden. Israel ist eine Atommacht, lässt sich aber von ein paar Tausend Hamas-Kämpfern überrumpeln? Das wurde weltweit – und vor allem im Nahen Osten – mit Häme wahrgenommen. Es hat dazu geführt, dass selbst weit entfernte Milizen wie die jemenitischen Huthi ihre Raketen nach Israel abfeuern. Vor wenigen Tagen erst schlug eine jemenitische Langstreckendrohne in Tel Aviv ein.

Befürworter breiter Friedenslösungen in der Minderheit

Dass die Huthi dies wagen, hat nicht nur damit zu tun, dass der Iran die jemenitische Schiitenmiliz unterstützt. Es ist vor allem Ausdruck verlorener israelischer Abschreckungsfähigkeit. Damit aber kann das Land nicht nur aus der Sicht seiner politischen Stahlhelme schlecht leben. Auch wenn der Schlag gegen den Hamas-Führer in Teheran eine Eskalation ist, die jede Hoffnung der Angehörigen auf einen Geiseldeal in Gaza zunichtemachen dürfte: Ein grosser Teil der Bürger will trotz der nach neun Monaten überbordenden Kriegsmüdigkeit, dass das Dauerproblem der Bedrohung durch die Hamas, den Islamischen Jihad und die Hizbollah endlich gelöst wird: mit Härte und mit militärischen Mitteln.

Die Befürworter umfassender Friedenslösungen jedenfalls sind derzeit in der Minderheit in Israel. Dass die USA – und die Europäer – dies beunruhigt, ist Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu klar. Doch er hatte schon, so berichtet die BBC, gleich nach dem Anschlag vom 7. Oktober seinen Geheimdienst angewiesen, die Hamas-Führer auszuschalten, «wo immer sie auch sind».

Zudem steckt Netanyahu seit Monaten bis zum Hals in innenpolitischen Kalamitäten und weiss, dass der anhaltende Krieg ihn vor Neuwahlen oder dem Gang vor Gericht schützt – er steht seit längerem unter Korruptionsverdacht. Und wenn es hart auf hart kommt, wenn der Iran und die Hizbollah also alle gleichzeitig ihre Raketen loslassen, werden die USA Israel zur Seite springen müssen. Egal, wer in Washington regiert, ob ein Joe Biden, eine Kamala Harris oder gar ein Donald Trump: Die USA werden niemals untätig zusehen, wie Israel einen Krieg gegen den Iran verliert.