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Deutsche Waffen für die Ukraine
Druck und Scham führen zu historischer Wende

Hielt seine bisher bedeutendste und stärkste Rede: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntagmittag im Bundestag.
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«What a day», schrieb Wolfgang Schmidt, der engste Vertraute von Olaf Scholz, am Samstagabend um 23.23 Uhr auf Twitter und fügte das Bild eines hell erleuchteten Kanzleramts in finsterer Nacht hinzu. Vier Stunden zuvor hatte die deutsche Regierung entschieden, der Ukraine 1000 Panzerabwehr- und 500 schultergestützte Flugabwehrraketen aus den Beständen der Bundeswehr zu übergeben – ein Schritt, den sie zuvor acht Jahre lang kategorisch ausgeschlossen hatte.

Kurz nach 23 Uhr war zudem bekannt geworden, dass die Ampelregierung den Ausschluss russischer Banken aus dem Zahlungssystem Swift mitträgt – auch wenn dies zur Folge haben kann, dass Russland Deutschland von der Lieferung von Gas, Öl und Steinkohle abschneidet. Noch zwei Tage zuvor hatte Berlin dies abgelehnt.

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Am Sonntag erklärte der Kanzler in einer Sondersitzung des Bundestags nicht nur diese historische Kehrtwende, sondern kündigte überdies eine überraschend weitreichende Aufrüstung der Bundeswehr an. Es war in bisher knapp drei Monaten Kanzlerschaft die mit Abstand bedeutendste und energischste Rede des 63-jährigen Sozialdemokraten.

Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, meinte Scholz, bringe «eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents». Auch für Berlin sei jetzt nur noch eine Reaktion möglich gewesen: die Lieferung von Waffen, damit sich die um das Überleben kämpfenden Ukrainer selbst verteidigen könnten. Die beispiellosen Sanktionen wiederum hätten das Ziel, Putins Krieg für Russland «zu einer Katastrophe» zu machen.

Deutschland müsse aber auch, so Scholz, wieder viel mehr Geld in die Verteidigung stecken als in den vergangenen drei Jahrzehnten. Anders liessen sich Freiheit und Demokratie in Europa nicht mehr schützen. Der frühere Finanzminister, der die Bundeswehr über Jahre eher klein gehalten hatte, kündigte an, dass man ausserhalb des Budgets ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro einrichten werde, um die Streitkräfte zu modernisieren.

«Wir werden nicht ruhen, bis der Frieden in Europa gesichert ist.»

Bundeskanzler Olaf Scholz

Damit nicht genug: «Ab jetzt wird Deutschland Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Bundeswehr investieren», versprach Scholz. Diese Verpflichtung war Berlin im Grunde bereits 2014 eingegangen, nach der russischen Annexion der Krim. Die Rüstungsausgaben waren danach zwar gestiegen, aber nur auf knapp 1,6 Prozent des BIP. Dies entspricht etwa 50 Milliarden Euro jährlich.

Scholz kündigte überdies an, die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern, durch den Bau zweier neuer Flüssiggasterminals und den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien. Seine halbstündige Rede schloss der Kanzler mit einem Versprechen: «Wir wissen, wofür wir einstehen, auch angesichts der deutschen Geschichte: für den Frieden in Europa. Und wir werden nicht ruhen, bis er gesichert ist.»

Zweite «realpolitische Wende» bei den Grünen: Aussenministerin Annalena Baerbock bespricht sich mit Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Abgesehen von Linkspartei und AfD, erhielt die Regierung breite Unterstützung. An Putin gerichtet, meinte der christdemokratische Oppositionsführer Friedrich Merz: «Genug ist genug. Das Spiel ist aus.» Die grüne Aussenministerin Annalena Baerbock erklärte den Sinneswandel so: «Wenn die Welt eine andere ist, muss auch unsere Politik eine andere werden.» Nach den «humanitären Interventionen» in Bosnien und Kosovo Ende der 1990er-Jahre kommt es bei den Grünen also zu einer zweiten realpolitischen Wende.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) meinte zu den Sanktionen: «Wir werden Russland isolieren – wirtschaftlich, finanziell, politisch.» Das Sondervermögen für die Bundeswehr erfordere zwar neue Schulden, «aber in dieser Situation sind das Investitionen in die Freiheit». Und der grüne Vizekanzler Robert Habeck bekannte: «Wenn Wachsamkeit der Preis der Freiheit ist, dann wollen wir nie wieder schlafmützig sein.»

Es war Habeck gewesen, der im Mai letzten Jahres nach einem Besuch im Donbass ein Tabu gebrochen hatte, als er sagte, dass man der Ukraine Defensivwaffen eigentlich nicht verwehren könne. Dies widersprach nicht nur der Haltung der Grossen Koalition von Angela Merkel, sondern auch dem Programm seiner eigenen Partei. Habeck wurde von den traditionell friedensbewegten Grünen und von Co-Chefin Baerbock denn auch sogleich zurückgepfiffen. Exporte von Rüstungsgütern in Kriegsgebiete sind in Deutschland im Prinzip verboten.

Die grösste deutsche Friedensdemonstration seit dem Irakkrieg 2003: Hunderttausende gingen am Sonntag in Berlin aus Solidarität mit der Ukraine auf die Strasse.

Auch die SPD verstand sich über Jahrzehnte vor allem als Friedenspartei, die insbesondere mit Russland stets den Handel und den Dialog suchte und Abrüstung über militärische Ausrüstung stellte. Anders als etwa die USA lehnte auch die CDU unter Merkel Waffenlieferungen selbst dann ab, als Putin 2014/15 seinen Krieg gegen die Ukraine längst begonnen hatte. Eine einzige Ausnahme gab es: Berlin rüstete 2014 die kurdischen Peshmerga in Syrien und im Irak mit Waffen aus, um den Vormarsch der Terrormiliz Islamischer Staat und einen Völkermord an den Jesiden zu verhindern.

Am Ende waren es der zunehmende Druck der Verbündeten in der Nato, die Scham über das Scheitern der Russlandpolitik der vergangenen 20 Jahre und das Mitleid mit dem sich tapfer verteidigenden ukrainischen Volk, die Deutschland an diesem Wochenende eine ganze Reihe von Tabus brechen liessen. Je länger die Ukrainer auf dem Schlachtfeld durchhalten, umso unerträglicher erschien vielen die bisherige Untätigkeit. «Wer bei einer militärischen Vergewaltigung zusieht», brachte Habeck den Stimmungswandel auf den Punkt, «macht sich schuldig.»