Analyse zur drohenden RezessionDie EZB erhöht den Leitzins – Europa fällt weiter zurück
Der Wachstumsrückstand gegenüber den USA nimmt zu, mit Folgen für den Wohlstand in Europa.
Die Europäische Zentralbank (EZB) erhöht ihre Leitzinsen um 0,25 Prozentpunkte. Schon am Vortag hat die US-Notenbank Fed ihrerseits eine Anhebung um 0,25 Prozentpunkte bekannt gegeben. Zur Bekämpfung der Inflation haben die Notenbanken seit Anfang 2022 die Zinsen in einem Ausmass und Tempo erhöht wie seit 40 Jahren nicht mehr.
In den USA ist damit das höchste Zinsniveau seit 2001 erreicht, in der Eurozone war es zuletzt 2008 so hoch.
Doch nun rückt das Ende der Zinserhöhungen näher. Denn die wirtschaftliche Stimmung trübt sich stark ein, besonders in Europa.
Die wichtigsten Konjunkturindikatoren deuten auf eine Verschlechterung in den nächsten Monaten hin. Die Einkaufsmanagerumfrage in der Eurozone zeigt einen deutlichen Abwärtstrend, vor allem für die Industrie. Sie leidet unter einer globalen Nachfrageschwäche. Hohe Energiekosten und die allgemeine Inflation bewirken einen Preisnachteil auf den internationalen Märkten. Die Wirtschaftsleistung in der Eurozone könnte im dritten Quartal insgesamt schrumpfen.
Besonders schlecht sieht die Lage in der deutschen Industrie aus, vom Baugewerbe über die Chemie bis zum Maschinenbau. Jetzt stottert auch der Motor der deutschen Industrie: Die Produktion der Autohersteller ist stark rückläufig. Von Januar bis Mai haben die vier grössten – VW, Audi, BMW und Mercedes – in Europa eine halbe Million Autos weniger gebaut als im Jahr vor der Pandemie, das ist ein Rückgang um ein Fünftel, wie das «Handelsblatt» berichtet.
Deutschland befindet sich bereits in einer Rezession, und es sieht so aus, also ob sich diese weiter festsetzt. Es ist in nächster Zeit mit steigenden Arbeitslosenzahlen zu rechnen, was den Konsum und die Konjunktur belasten wird.
Deutschland steckt in der Rezession
Gemäss den am Dienstag publizierten Prognosen des Internationalen Währungsfonds haben sich die Aussichten für die Weltwirtschaft ganz leicht verbessert. Die USA sollen um 1,8 Prozent wachsen, die Eurozone nur mit 0,9 Prozent. Die Aussichten Deutschlands schätzt der IWF pessimistischer ein als noch vor kurzem. Die deutsche Wirtschaftsleistung soll im laufenden Jahr um 0,3 Prozent schrumpfen.
Für die Schweizer Wirtschaft, deren wichtigster Handelspartner Deutschland ist, sind das keine guten Aussichten.
Aber es ist nicht nur die Konjunktur. Auch die längerfristige Entwicklung bereitet Sorgen.
Die hohen Energiekosten bedeuten einen gravierenden Wettbewerbsnachteil für Europa gegenüber den USA oder China. Energieintensive Branchen wie die Chemie investieren deshalb eher in den USA oder in Asien als in der Eurozone.
«In den letzten zehn Jahren ist die EU wirtschaftlich, technologisch und militärisch weniger leistungsfähig geworden als Amerika.»
Die alternde Bevölkerung drückt auf die Produktivität. Die Kombination aus geringem Wachstum und hohen Energiekosten untergräbt die Kaufkraft und den Lebensstandard der Europäer. Die Steuereinnahmen sinken trotz vergleichsweise hoher Steuerbelastung. Das schränkt die Möglichkeiten der Regierungen für öffentliche Dienstleistungen und Sozialleistungen ein.
Europa gerät gegenüber den USA immer stärker ins Hintertreffen. Seit der Jahrhundertwende hat das kaufkraft- und inflationsbereinigte Bruttoinlandprodukt (BIP) der USA um fast 50 Prozent zugenommen, jenes der Eurozone aber nur um 27 Prozent. Trotz stärkerem Bevölkerungswachstum in den USA wächst auch das BIP pro Kopf dort deutlich schneller.
Zwar wuchsen einige mittel- und osteuropäische Länder wie etwa Polen beträchtlich, aber ihre relativ geringe Grösse und ihre niedrigere Ausgangsbasis vermögen den Trend des relativen wirtschaftlichen Niedergangs in Europa nicht umzukehren.
Der Rückstand gegenüber den USA wird immer grösser
Setzt sich der Trend der letzten Jahre fort, werde das Wohlstandsgefälle zwischen dem Durchschnittseuropäer und dem Durchschnittsamerikaner im Jahr 2035 so gross sein wie zwischen dem Durchschnittseuropäer und dem Durchschnittsinder heute, warnt das European Centre for International Political Economy (ECIPE), ein Brüsseler Thinktank, in einem kürzlich veröffentlichten Bericht.
Der Befund deckt sich mit der Analyse von Jeremy Shapiro und Jana Puglierin vom Thinktank European Council on Foreign Relations: Europa sei gegenüber Amerika ins Hintertreffen geraten, und der Rückstand werde immer grösser. «In den letzten zehn Jahren ist die EU wirtschaftlich, technologisch und militärisch weniger leistungsfähig geworden als Amerika.»
Zwar wird immer wieder der Niedergang des Dollars beschworen, aber es ist der Euro, der international an Gewicht verliert. Seit der Eurokrise sank sein Anteil an den offiziellen Devisenreserven der Zentralbanken von fast 28 auf derzeit weniger als 20 Prozent. Was der chinesische Renminbi in den vergangenen zehn Jahren im Devisenhandel an Gewicht gewonnen hat, ging vollständig zulasten des Euro, der kräftig Marktanteile eingebüsst hat.
Die grössten Technologieunternehmen der Welt, gemessen an der Marktkapitalisierung, sind alle US-amerikanisch. Unter den Top 20 finden sich nur zwei europäische Unternehmen – der niederländische Anbieter von Lithographiesystemen für die Halbleiterindustrie ASML und der deutsche Softwarekonzern SAP.
Von den hundert meistzitierten wissenschaftlichen Arbeiten über künstliche Intelligenz kamen 68 aus den USA und 27 aus China, aber nur eine aus Deutschland. Führend ist die EU in den Zukunftsbranchen höchstens bei der Regulierung.
In der kürzlich publizierten Shanghai-Rangliste der besten Universitäten der Welt finden sich fünf europäische Institute unter den Top 20: die ETH Zürich und vier aus Grossbritannien. Aber keine einzige aus der EU. Unter den Top 50 sind es mit Paris und München gerade mal zwei.
Besondere Stärken hat Europa noch in den «Lifestyle»-Branchen, Tourismus, Luxusgüter, Nahrungsmittel, Kultur und Fussball.
Natürlich ist wirtschaftliches Wachstum nicht alles. Die ECIPE-Autoren verstehen ihren Bericht jedoch als «Warnruf vor dem schwachen Wirtschaftswachstum in Europa und seinen Folgen für den Wohlstand».
Denn auf die Dauer wirkt sich ein solcher Wachstumsrückstand auf den Lebensstandard aus. Der Unterschied zwischen etwa 1 Prozent Wachstum pro Jahr in Europa und 2 Prozent in den USA mag klein erscheinen. Aber eine Wirtschaft, die um 2 Prozent wächst, verdoppelt sich in 35 Jahren. Eine Wirtschaft, die um 1 Prozent wächst, braucht dazu 70 Jahre.
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