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Antisemitismus in der Schweiz
So erleben jüdische Prominente die Anfeindungen

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Die Zahlen sind erschreckend. In der Deutschschweiz haben sich seit dem 7. Oktober 2023 viel mehr antisemitische Vorfälle ereignet als zuvor, wie der Antisemitismusbericht zeigt, den der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) diese Woche publiziert haben. Gegenüber dem Vorjahr haben sich die antisemitischen Vorfälle der Studie zufolge von 57 auf 155 Fälle verdreifacht. Allein zwischen den Hamas-Attacken vom 7. Oktober und dem Jahresende wurden 114 Vorfälle gemeldet, mehrheitlich Beschimpfungen und Schmierereien.

Besonders dramatisch haben Tätlichkeiten zugenommen: Laut dem Antisemitismusbericht wurden Jüdinnen und Juden im vergangenen Jahr in der Deutschschweiz insgesamt zehnmal physisch attackiert. In den Vorjahren kam es höchstens zu einem solchen gewalttätigen Übergriff. 

Am 2. März verübte ein 15-Jähriger in Zürich die schwerwiegendste antisemitische Attacke seit 20 Jahren: Er fügte einem jüdisch-orthodoxen Familienvater aus Zürich mit einem Messer lebensgefährliche Verletzungen zu. 

«Wo soll ich sonst hin?»

Wie leben Jüdinnen und Juden nach diesem Vorfall weiter? Fühlen sie sich noch sicher in der Schweiz? Der Zürcher Politiker Jehuda Spielman gehört der gleichen jüdischen Gemeinde an wie das Opfer des 2. März. Angst habe er nicht, sagt der Zürcher FDP-Gemeinderat. Jüdinnen und Juden seien «relativ resistent, was solche Zustände anbelangt», weil sie in dieser Hinsicht schon so viel Schreckliches erlebt hätten.

Spielman erinnert an die Tötung des Schoa-Überlebenden Abraham Grünbaum im Jahr 2001 in Zürich-Aussersihl, die sich tief ins Gedächtnis der Schweizer Jüdinnen und Juden eingeprägt habe. So werde auch das Attentat vom 2. März Spuren hinterlassen. «Das sind Ereignisse, die man nicht vergisst», sagt Spielman. Aber im Alltag versucht er, sich nicht davon bestimmen zu lassen. «Ich bin hier im Kreis 3 zu Hause – und zu Hause fühle ich mich am wohlsten. Wo soll ich denn sonst hin?», fragt Spielman. 

Jehuda Spielman, orthodoxer Jude will für die FDP in den Gemeinderat, Zürich, 29.12.2021, Foto Dominique Meienberg

In der jüdischen Gemeinde seien sie nun zu einer Art Spagat gezwungen. Einerseits seien seit dem 7. Oktober und dem Attentat vom 2. März die Sicherheitsmassnahmen verstärkt worden. Andererseits seien sie bemüht, das Gemeindeleben davon nicht beeinflussen zu lassen, sagt Spielman. «In Deutschland gibt es jüdische Institutionen, die so stark abgeschirmt werden, dass sie nicht mehr einladend sind.» In Zürich dürfe es nicht so weit kommen. Die Synagoge müsse ein Ort bleiben, wo sich Angehörige der Gemeinde – Erwachsene und ihre Kinder – treffen können. 

Das Hamsterrad des Antisemitismus

Die Zürcher FDP-Kantonsrätin Sonja Rueff-Frenkel sagt am Telefon, Angst wäre das falsche Wort für das, was sie empfinde. «Wer Angst hat, versteckt sich, und genau das will ich nicht.» Es sei eher so, dass ein Gefühl der Verunsicherung, das schon immer da war, sich seit dem 7. Oktober verstärkt habe. Auch in ihrem Bekanntenkreis herrsche nicht Panik, sondern eher eine Mischung aus Frustration und Ermüdung. Auf der Strasse angepöbelt zu werden, gehöre für Jüdinnen und Juden fast schon zum Alltag. «Viele fühlen sich wie in einem Hamsterrad des Antisemitismus, es hört nie auf.» Sie kenne aber auch Angehörige des jüdischen Glaubens, die aus Angst nicht mehr mit Kippa oder einer Kette mit Davidstern auf die Strasse gehen. 

Sonja Rueff-Frenkel: Schiesst sie einen Parteikollegen ab? Portrait der FDP-Stadtratskandidatin. #stadtratswahlen2022. Sonja Rueff-Frenkel in ihrem Pop-Up Buero an der Bederstrasse 89.
11.01.2022
(ELA ÇELIK/TAMEDIA AG)

«Persönlich habe ich auf der Strasse noch nie Übergriffe erlebt», sagt der Zürcher Schriftsteller Thomas Meyer. Er trage auch weiterhin seinen Davidstern. «Wenn ich eine Kippa tragen würde, dann würde ich mir wohl – wie viele fromme Juden – eine Baseballkappe darüber anziehen.» 

Hakenkreuze gewohnt

Nach dem 7. Oktober hat Meyer sehr viel Anteilnahme aus dem persönlichen Umfeld erfahren. «Das ist natürlich der Luxus meiner subjektiven Wahrnehmung». Denn vielen ist es anders ergangen, wie der Bericht des SIG zeigt. Und selbstverständlich fallen Meyer in der Stadt die Parolen auf, die aufgesprüht und angeklebt werden. Am Stauffacher hat er zum Beispiel einen Aufkleber mit dem Atomsünneli und der Aufschrift «Zionismus – nein danke» gesehen.

An Hakenkreuz-Schmierereien in Zürich hat sich Thomas Meyer seit längerem gewöhnt: «Das fällt für mich unter ‹dummer Jungenstreich›, der für mich nicht zwingend mit dem Thema zu tun hat.» Anders sei das, wenn er in seinem Zürcher Wohnquartier ein Graffiti mit dem Text «From the river to the sea» sehe.

*Thomas Meyers Sohn hatte Long Covid* Interview mit Vater und Sohn. Thomas Meyer in Zuerich.
02.06.2022
(ELA ÇELIK/TAMEDIA AG)

Bis zum Attentat vom 2. März hat Thomas Meyer antisemitische Äusserungen und Parolen nicht als Gefährdung von Leib und Leben empfunden, sondern «als Bedrohung von Demokratie und Zusammenhalt». Seit dem Attentat sei das nun aber anders. Meyer kennt die Angst, dass ihm oder anderen etwas Ähnliches passiert wie dem beim Attentat Verletzten. «Angst klingt nach einem globalen Gefühl, als würde es mich den ganzen Tag beschäftigen, als würde ich nicht mehr nach draussen gehen. So ist es nicht. Aber es ist natürlich eine Furcht, die mich noch mehr begleitet als zuvor.» 

Die Angst, über Geld zu reden

Bisher fürchtete sich Meyer vor allem vor «dummen antisemitischen Sprüchen im persönlichen Umfeld, was ja schon schlimm genug ist. Wir sprechen hier von vielen Hundert ausgrenzenden Aussagen.» Vor allem von Männern – weniger von Frauen. Diskriminierung scheine eher etwas zu sein, was von Männern ausgehe, sagt Meyer. «Wenn ich über Geld reden muss, dann habe ich Angst – und das ist eine echte, spürbare Angst –, dass ein dummer Spruch kommt wegen jüdischen Geizes.» Er habe schon viele Freundschaften und Kontakte wegen solcher Sprüche und Bemerkungen abbrechen müssen. 

Antisemitismus hat laut Sonja Rueff-Frenkel verschiedene Quellen: Die althergebrachten Vorurteile, wonach Juden reich, geizig und mächtig seien. Sie seien in der gesamten Schweizer Bevölkerung – latent oder weniger latent – verbreitet. «Was sich seit dem 7. Oktober enorm verstärkt hat, ist, dass Schweizer Jüdinnen und Juden sich für die Politik Israels rechtfertigen müssen», sagt Rueff-Frenkel. Diese Haltung sei vor allem bei Musliminnen und Muslimen ausgeprägt, die sich mit der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen solidarisieren.

Sie selber, erzählt die FDP-Politikerin, erhalte antisemitische Mails, aber bisher keine offenen Morddrohungen. «Die Beschimpfungen per Mail oder in sozialen Medien sind häufiger geworden, aber nicht merklich aggressiver oder schlimmer.»

Soziale Medien: Die Hölle

Zu den sozialen Medien sagt Jehuda Spielman, sie seien seit dem 7. Oktober «die Hölle». Spielman stösst dort immer wieder auf Beiträge, die ihn erschrecken. Besonders schockierend findet er Postings, in denen sich Menschen mit angesehenen Berufen und ihrem vollen Namen antisemitisch äussern, etwa im Businessnetzwerk Linkedin. Für Spielman macht dies deutlich, dass einige Leute antisemitische Äusserungen für legitim halten.

Dina Deborah Pomeranz, Schweizer Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie zählt zu den einflussreichsten Akademikern dieser Fachrichtung in der Schweiz
Zürich, 14.11.2023

Thomas Meyer findet beunruhigend, dass einige mittlerweile glauben, die Wahrheit finde sich auf Telegram oder Tiktok. Für Meyer – wie auch für Jehuda Spielman – sollten Schülerinnen und Schüler viel besser sensibilisiert werden. Aber auch die Erziehungsberechtigten: «Ich glaube nicht, dass die Desinformation gestoppt werden kann», sagt Meyer, «aber ich denke, man kann sie abschwächen.» Rueff-Frenkel fordert von den Schulen eine Nulltoleranzpolitik. Was sie leisten müssten, noch bevor in einer Klasse oder auf dem Pausenplatz der erste antisemitische Spruch falle: Sprechen über Vorurteile, erklären, woher sie kommen, sie in einen politischen und historischen Zusammenhang stellen. «Man muss den Jungen klarmachen, dass die jüdische Religion nicht gleichzusetzen ist mit der israelischen Politik.»

Meyer findet es viel zu einfach, nur auf den 15-jährigen Attentäter zu zeigen. Und es sei allzu bequem, wenn etwa ein SVP-Kantonsrat meint, der Antisemitismus komme nicht von rechts, sondern von der radikalen Linken. «Antisemitismus ist ein Problem der gesamten Gesellschaft, weil wir alle damit sozialisiert worden sind», sagt Meyer. Für Meyer ist der Vorfall vom 2. März ein Symptom einer gesamtgesellschaftlichen Problematik: Antisemitisch seien immer nur die anderen. 

Auch antimuslimischer Rassismus

Die Ökonomin und Universitätsprofessorin Dina Pomeranz schreibt in einer Mail: «Alle paar Jahre gibt es in der Schweiz wieder gewaltsame Angriffe auf jüdische Menschen. Deshalb hat mich auch der aktuelle Angriff leider nicht erstaunt.» Überrascht sei sie jedoch von der Welle von antimuslimischem Rassismus, dem ihre muslimischen Freunde seit dem Anschlag ausgesetzt seien. «Es macht mich sehr traurig, wenn Leute die schreckliche antisemitische Gewalttat instrumentalisieren, um pauschalisierend gegen eine andere religiöse Minderheit zu hetzen.»

Sonja Rueff-Frenkel sagt, sie gebe die Hoffnung trotz allem nicht auf – die Hoffnung, es setze sich in der Öffentlichkeit die Einsicht durch, dass nun jedes tolerierbare Mass an Antisemitismus überschritten sei.