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Interview zur Zürcher Messerattacke
«Gefährlich wird es, wenn Jugendliche andere Menschen als Feinde sehen»

[Themenbild, gestellte Aufnahme] Switzerland. Schweiz. Zurich. Zuerich. Quartier. Jugend. Jugendgewalt. Gewalt. Jugendliche. Schlaegerei. Messer. Knife. Waffe. Teenager. Fight. Boxing. Violence. Jugendbande. Kriminalitaet. Freizeit. Kreis 5. Kreis 4. Juni 2002. (KEYSTONE/Martin Ruetschi) === MODEL RELEASED === :DIA]
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Letzte Woche hat ein 15-Jähriger in Zürich einen orthodoxen Juden niedergestochen. Was denken Sie, Frau Bessler, wenn Sie von einer solchen Tat hören?

Da ich seit über 40 Jahren als Gutachterin und Psychotherapeutin unter anderem auch im jugendstrafrechtlichen Bereich tätig bin, musste ich mich bereits mehrfach mit solch schweren Straftaten, die Minderjährige verübt haben, auseinandersetzen. Neu sind jedoch die antisemitischen Angriffe, die wir vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts beurteilen müssen.

Wieso geht ein 15-Jähriger mit einem Messer los, um zu töten?

Ich kenne die Gegebenheiten der Messerattacke nicht im Detail, deshalb kann ich die Situation nicht beurteilen. Es können ganz verschiedene Faktoren zu einer solchen Entwicklung beigetragen haben. Es könnte eine psychische Störung oder generell psychische Auffälligkeit beim Jugendlichen zum Tragen gekommen sein. Eventuell können auch belastende Faktoren im Umfeld des Täters einen Einfluss gehabt haben. Es kann aber auch das Jugendalter eine Rolle gespielt haben.

Welchen Einfluss hat das Alter?

Bei Jugendlichen verändert sich beim Heranreifen nicht nur der Körper, sondern ganz besonders auch das Gehirn. Dort findet ein regelrechter Umbau statt. Die Jugendlichen erlangen einerseits neue geistige Fähigkeiten. Sie fangen an, Dinge zu kombinieren und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. In dieser Zeit beginnen sie auch, sich für Ideale und gesellschaftliche Werte einzusetzen. Andererseits fehlt den Jugendlichen oft die Kontrolle ihrer Impulse. Der Grund ist, dass sich in der Pubertät erst spät das Vorderhirn entwickelt. Aufgrund ihrer noch eingeschränkten Erfahrung und durch einschlägige Einflüsse ihres Umfelds können Jugendliche zu vorschnellen Schlüssen kommen. Sie schliessen sich zum Teil auch Gruppen an, die radikale Ansichten vertreten. Im Rahmen der Gruppendynamik passiert es, dass sich Einzelne zunehmend radikalisieren.

Planen Jugendliche ihre Straftaten also anders als Erwachsene?

Ja. Jugendliche verfügen über weniger Kapazitäten, um ihre Handlungen zu überdenken und abzuwägen. Daher gibt es ja auch das Jugendstrafrecht. Im Jugendstrafrecht wird berücksichtigt, dass ein Jugendlicher noch nicht über die Fähigkeiten eines Erwachsenen verfügt.

In der Pubertät wird bei allen Jugendlichen das Gehirn umgebaut, aber nur wenige begehen so schwere Straftaten.

Die meisten Jugendlichen haben auf ihrem Lebensweg gelernt, die Schwelle zu schweren Straftaten nicht zu überschreiten. Ganz generell kommt es nur selten zum Mord oder zu Tötungsversuchen.

Wie kommt ein Jugendlicher dazu, einen jüdischen Mann anzugreifen?

Aufgrund des Nahostkonflikts häufen sich derzeit leider Angriffe mit antisemitischer Motivation. Das ist beängstigend. In unserer globalisierten Welt bringen die Medien die Realität des Krieges täglich in unsere Wohnzimmer. Das macht etwas mit uns Menschen. Gerade die Jugendlichen sind diesbezüglich sensibel. Sie sind empathisch und fühlen zum Beispiel das Leid der Bevölkerung im Gazastreifen. Die Jugendlichen bekommen aber zu wenig Hilfe und Unterstützung, um die schrecklichen Bilder einzuordnen. Sie sind daher leicht beeinflussbar, was zu einer Radikalisierung führen kann. Gefährlich wird es, wenn sich die Wahrnehmung und Haltung der Jugendlichen in Eigengruppe (in-group) und Fremdgruppe (out-group) spaltet.

Was bedeutet das?

Die Jugendlichen sind empathisch innerhalb ihrer eigenen Gruppe. Die Menschen, die ausserhalb der Gruppe stehen, werden aber als Feinde angesehen. So kann es beispielsweise vor dem Hintergrund einer Solidarisierung mit den Palästinensern im Gazastreifen zu einer Aggression gegen Vertreter des Judentums kommen. Gefährlich kann es werden, wenn der sogenannte Feind entpersonalisiert, also nicht mehr als Mensch betrachtet wird. Ein gewisser Heldenmythos kann zudem die Situation verschärfen, etwa wenn ein Jugendlicher denkt: «Ich setze mich für diese Bevölkerungsgruppe ein, ich wehre den Feind ab.» Das sind dann auch sehr jugendtypische Grössenfantasien.

Sind Messerattacken ein männliches Phänomen?

Nein, Messerattacken werden auch von Frauen verübt. Straftaten, bei denen Frauen Messer einsetzen, sind aber öfter von persönlichen Konflikten und Intrigen geprägt.

Wann begehen Jugendliche Straftaten wegen psychischer Erkrankungen?

Psychische Störungen können die Wahrnehmung, den Affekt, die Kognition und die Beziehung zu anderen Menschen in einem hohen Masse beeinträchtigen. Vor dem Hintergrund dieser Beeinträchtigungen kann es auch zu straffälligem Verhalten kommen. Die Schuldfähigkeit ist dann aber meistens eingeschränkt. Wenn psychisch erkrankte Menschen andere Personen attackieren, spielen meistens grosse Ängste eine Rolle.

«Wir dürfen die Jugendlichen nicht allein lassen mit dem, was in den aktuellen Kriegen passiert.»

Und welchen Einfluss hat das Umfeld darauf, dass Jugendliche straffällig werden?

Viele jugendliche Straftäter kommen aus schwierigen Verhältnissen oder haben traumatisierende Erfahrungen gemacht. Manche haben Aggression und Streit in der Familie erlebt oder wurden in der Schule ausgegrenzt oder wurden wegen der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgruppe gemieden. Das kann tiefe Verletzungen hinterlassen und zu heftigen Emotionen führen. Bei manchen Jugendlichen können bestimmte äussere Umstände die angestauten Aggressionen freisetzen, was zu unreflektierten Taten führen kann.

Wie können Eltern oder Lehrpersonen erkennen, wenn Jugendliche sich radikalisieren?

Wenn sich Jugendliche einschlägig äussern, sich mit bestimmten radikalen Gruppen solidarisch zeigen oder entsprechende Inhalte in den sozialen Medien posten, sollten die Bezugspersonen der Jugendlichen aufmerksam werden.

Was können wir dagegen tun?

Eltern, Lehrkräfte, Sporttrainer oder andere Betreuungspersonen sollten immer wieder die Möglichkeit nutzen, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, auch wenn diese sich politisch nicht sehr interessiert zeigen. Die Jugendlichen sollten darauf angesprochen werden, was sie mitbekommen haben und was sie darüber denken. Es ist furchtbar, was in den aktuellen Kriegen passiert, und wir dürfen die Jugendlichen damit nicht allein lassen. Es geht darum, gemeinsam für den Frieden einzustehen und unsere demokratischen Werte zu vertreten und zu schulen.