Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Extremismusexperte zu Zürcher Messerattacke
«Diese Art jugendliche islamistische Gewalt sehen wir zum ersten Mal»

Zueritipp-Seriel 24 h in Wiedikon. 
Jüdische Männer auf dem Weg zur Synagoge
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Herr Baier, am Samstagabend hat ein Jugendlicher in Zürich einen orthodoxen Juden mit Messerstichen angegriffen. Der Täter gab laut Zeugen an, dass er mit einer Terrororganisation sympathisiere. Er ist erst 15 Jahre alt.

Das Alter hat mich schockiert. Bereits 2014 waren es Jugendliche, die aus Winterthur in den Islamischen Staat auswanderten. Aber da war keine direkte Gewalt im Spiel. Die Jugendlichen reisten da einfach hin, weil sie sich davon versprochen haben, dass es ihnen dort besser geht. Diese Art jugendliche islamistische Gewalt wie jene vom Samstag sehen wir so in der Schweiz zum ersten Mal.

Wie kommt ein 15-Jähriger mit einer Terrororganisation in Berührung?

Der 7. Oktober, der Angriff der Hamas, hat ganz klar eine Tür geöffnet. Der Konflikt zwischen Juden und Muslimen wurde wieder präsent. Genauso die Vorfälle danach, als Israel in Palästina einmarschierte. Solche Ereignisse, die man als gesellschaftliche Missstände deuten kann, sind Teil des Radikalisierungsprozesses. In anderen Ländern, etwa Frankreich oder Deutschland, hat man viel früher gesehen, dass dieses Thema bestimmte muslimische Gruppen sehr intensiv bewegt, bis hin zur Gewaltbereitschaft gegenüber Jüdinnen und Juden.

Das erklärt aber noch nicht das junge Alter des Täters.

Wir wissen über den 15-jährigen Täter noch nicht viel. Wie gut er tatsächlich hier integriert ist oder in welchen Netzwerken er sich bewegte, muss nun untersucht werden. Klar ist: Bei islamistischer Gewalt handelt es sich vorwiegend um Taten junger Männer. Häufig sind es Menschen, die in ihrem Leben den Halt verloren haben und nun eine Bedeutsamkeit suchen. Bis ein 15-Jähriger mit dem Messer einfach so jemanden angreift, muss sehr viel passiert sein.

Zum Beispiel?

Ich denke nicht, dass der Täter zum ersten Mal mit impulsivem, gewalttätigem Verhalten aufgefallen ist. Aus der Terrorismusforschung wissen wir: Personen, die terroristische Anschläge verübt haben, sind schon vorher mit Gewalt aufgefallen. Danach erst kommt die Ideologie ins Spiel. Und die lautet derzeit in verschiedenen Netzwerken: Muslime werden erneut von Israel unterdrückt. Der 7. Oktober, die massive Gewalt der Hamas, die wird völlig ausgeblendet.

Immer wieder fallen junge Männer auf, die gewalttätig werden. Wieso?

Zuerst einmal: 95 Prozent der jungen Männer können ihre Männlichkeit und ihre Dominanz, die ein Stück weit gerade im jugendlichen Alter dazugehört, auf normalem Weg ausleben: im Sport, über Schulleistungen oder Ähnliches. Doch ein kleiner, sozial abgekoppelter Teil der jungen Männer, die wenig andere Perspektiven haben, um ihre Stärke zu zeigen, greift zu physischer Gewalt.

Hierfür scheint vor allem das Messer unter Jugendlichen beliebt.

Das Messer ist das einfachste und effektivste Mittel, um vermeintliche Stärke zu demonstrieren. Es braucht keine Selbstdisziplin, es braucht kein wochenlanges sportliches Training. Man zückt einfach das Messer und ist überlegen und der andere sofort eingeschüchtert.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien – Plattformen wie Tiktok, Youtube, Instagram und Co.?

Die Plattformen allein reichen für die Radikalisierung noch nicht aus. Aber sie spielen eine wichtige Rolle. Man wird auf diesen als Muslim angesprochen und in seinem Selbstverständnis aufgewertet. Man erhält einfache Erklärungen und Feindbilder. Etwa: Die Jüdinnen und Juden sind an allem schuld. Das hilft, mit der Komplexität der Welt zurechtzukommen. Und je mehr man sich darin einig ist, wer der Feind ist, desto eher ist man auch bereit, den Feind abzuwerten, den Feind zu entmenschlichen und anzugreifen. Hinzu kommt der soziale Aspekt: Man hat es mit Gleichgesinnten zu tun, man gehört dazu, niemand widerspricht. Gerade für Jugendliche ist dieser soziale Anschluss unglaublich wichtig. Oft überzeugt nicht unbedingt der Inhalt, sondern Eindeutigkeit und soziale Zugehörigkeit.

Sie haben 2018 die Radikalisierung bei 17- und 18-jährigen Jugendlichen in der Schweiz untersucht. Bei den muslimischen Jugendlichen lag die Zustimmung zu islamistischem Extremismus unter 3 Prozent. Wie sieht das heute aus?

Wir haben damals Einstellungen bezüglich Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus verglichen. Damals war Islamismus unter Muslimen die geringste Gefahr. Wie heute die Zustimmungsquoten zu einzelnen dieser Einstellungen sind, wage ich nicht zu beurteilen. Klar ist: In den letzten sechs Jahren ist viel passiert. Wir hören aus Schulen immer wieder, dass muslimische Schüler israelfeindliche Haltungen einnehmen, dass sie sich Videos anschauen, dass sie teilweise recht offen mit Gewalt drohen. Es wäre daher wichtig, aktuelle Daten zu diesem Phänomen zu haben, die womöglich höher ausfallen als früher.

Am Sonntagabend bezog die Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (Vioz) Stellung zum Vorfall. Sie verurteilt die Tat vehement.

Die Stellungnahme der Verbände war klar formuliert und richtig. Die überwältigende Mehrheit der Muslime teilt die Werte der Schweizer Gesellschaft. Dennoch muss man auch thematisieren, dass es Muslime sind, die solche Taten begehen. Solche Vorfälle sind eine Aufforderung an die muslimischen Gemeinschaften, sich kritisch zu hinterfragen. War dieser junge Mensch möglicherweise in einer Moschee hier in der Schweiz? Hatte er einen Bezug zur muslimischen Gemeinschaft? Wie funktioniert die Religionsausbildung? Was können wir noch mehr für ein friedliches Miteinander tun? Wenn man nun einfach sagt: «Das hat nichts mit uns zu tun», gibt man die Verantwortung etwas zu schnell ab.

Zueritipp-Seriel 24 h in Wiedikon.
Supertanker an der Binzstrasse.

Seit dem 7. Oktober berichten Jüdinnen und Juden in der Schweiz vermehrt von antisemitischen Vorfällen. Sie berichten, dass sie sich nicht mehr sicher fühlen. Haben wir diese Stimmen zu wenig ernst genommen?

Wir haben bereits im Jahr 2020 Jüdinnen und Juden in der Schweiz zu ihrem Sicherheitsgefühl befragt. Etwa 20 Prozent der Jüdinnen und Juden hatten sich schon damals mit dem Gedanken beschäftigt, die Schweiz zu verlassen, weil sie sich hier nicht sicher gefühlt haben. Das ist also leider nichts Neues. Ich gehe trotzdem nicht davon aus, dass irgendwas bezüglich des Schutzes von Jüdinnen und Juden versäumt worden ist. Die Tat des 15-Jährigen ist bislang ein Einzelfall. Und solches verhindern zu können, ist aus meiner Sicht ein Ding der Unmöglichkeit.

Wie merkt man, dass das eigene Kind sich radikalisiert?

Es gibt kein Patentrezept. Gerade Jugendliche wollen manchmal auch einfach provozieren. Eltern sollten etwa nicht das Handy überwachen – das ist ein unbeholfener Versuch, in Erfahrung zu bringen, was das Kind denkt und tut. Stattdessen sollten sie das Gespräch suchen, und das immer wieder. Nur so kann man die Rigidität in den Haltungen feststellen. Personen, die es zum Beispiel schaffen, komplett auszublenden, dass über 1000 Menschen von der Hamas an einem Tag getötet worden sind, bei denen kann es meiner Meinung nach gefährlich werden. Und für Eltern auch wichtig: Es gibt Extremismusberatungsstellen, die helfen können, das Verhalten des Kindes einzuordnen. Das sollte man auf jeden Fall nutzen.