Kommentar zur Zürcher MesserattackeDieser Mordversuch an einem Juden muss ein Weckruf sein für die Schweiz
Der Bundesrat und die Gesellschaft dürfen sich nicht länger in die Tasche lügen: Die Schweiz hat ein Antisemitismusproblem und tut zu wenig dagegen.
Es ist eine Szene, wie man sie bisher nur aus dem Ausland kannte: Ein islamistisch radikalisierter 15-jähriger Schweizer mit tunesischen Wurzeln greift in Zürich einen Juden an und sticht mit einem Messer wild auf ihn ein. «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten», soll er laut der Zeitung «Tachles» geschrien haben. Dass der 50-jährige Familienvater die Attacke überlebt hat, ist ein Wunder.
Der Mordversuch ist nicht nur eine abscheuliche lokale Gewalttat. Er markiert eine Zäsur für das ganze Land. Erstmals seit Jahrzehnten wird ein jüdischer Schweizer nachweislich Opfer eines antisemitisch motivierten Hassverbrechens. Nach allem, was man bis jetzt weiss, wurde das Opfer allein deshalb zum Ziel, weil es wegen seiner Kleidung als Jude erkennbar war.
Die Zürcher Behörden reagierten rasch und verurteilten das Verbrechen, ebenso mehrere muslimische Verbände. Ganz anders Bundesbern. Bundespräsidentin Viola Amherd, die sonst auf X jede Sportmedaille zeitnah kommentiert, brauchte fast zwei Tage, um wenigstens in einem kurzen Tweet Stellung zu nehmen.
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Die Zurückhaltung, ja Gleichgültigkeit der nationalen Politik verkennt, dass der Fall Zürich ein Fall Schweiz ist. Er zeigt, dass wir nicht länger so tun können, als seien Jüdinnen und Juden nur in französischen Banlieues bedroht. Auch die Schweiz hat ein Antisemitismusproblem, das bis zu Mord und Terror führen kann. Das ist nicht nur ein Problem der jüdischen Gemeinschaft: Wenn in der Schweiz eine Minderheit ihres Lebens nicht mehr sicher sein kann, hat die Gesellschaft als Ganzes versagt.
Darum muss die Polizei nun genau untersuchen, wie der Täter radikalisiert werden konnte. Im Internet? In einer bestimmten Moschee? Gibt es Hintermänner? Gestützt auf diese Ermittlungen muss die Politik dann prüfen, wie man islamistisch motivierte Täter früher erkennen und stoppen kann. Falls nötig muss das Repertoire der Polizei und der Justiz, besonders auch der Jugendjustiz, verstärkt werden.
Doch Antisemitismus ist nicht nur in muslimisch-migrantischen Gesellschaften ein Problem, sondern auch in vermeintlich bodenständigen Schweizer Milieus. Umfragen zeigen, dass namentlich rechts stehende Menschen anfällig sind für antisemitische Stereotype – erst recht seit der Corona-Pandemie. Und es gibt, etwas weniger ausgeprägt, auch einen linken Antisemitismus – erst recht seit dem Gaza-Krieg.
Gefordert ist nun zuallererst der Bundesrat. Amherds Tweet genügt nicht als Reaktion. Die Landesregierung muss nun rasch offiziell Stellung nehmen, den Jüdinnen und Juden ihre Solidarität erklären und unmissverständlich klar machen, dass der Schweizer Staat Antisemitismus in keiner Form akzeptiert. Und der Bundesrat muss das Schweizer Antisemitismusproblem – egal ob muslimisch, rechts- oder linksradikal geprägt – auch klar als solches benennen.
Dann braucht es konkrete Massnahmen. Nach jahrelangem Knausern beteiligt sich der Bund zwar endlich an den Sicherheitskosten jüdischer Einrichtungen. Dieses Engagement muss aber, wenn nötig, ausgebaut werden. Antisemitische Parolen und Schmierereien müssen konsequent entfernt und strafrechtlich geahndet werden. Der Ständerat sollte zudem seinen formaljuristischen Widerstand gegen ein Verbot von antisemitischen Symbolen aufgeben. Und der Nationalrat hat just am nächsten Donnerstag die Gelegenheit, Ja zu sagen zu einem parlamentarischen Vorstoss, der eine nationale Strategie gegen Antisemitismus und Rassismus verlangt.
Ansetzen muss diese Strategie auch in den Schulen, wo der Judenhass und seine Hintergründe sowie der Holocaust viel intensiver thematisiert werden müssen. Wer diese Aufgabe Tiktok überlässt, muss sich nicht wundern, wenn auf Schweizer Strassen Juden niedergestochen werden.
In einer ersten Version stand fälschlicherweise, der Mordversuch sei das erste antisemitsch motivierte Hassverbrechen «seit Menschengedenken». Diese Formulierung liess die Ermordung von Arthur Bloch 1942 in Payerne ausser acht. Einzelne Leser haben auch auf die Ermordung von Abraham Grünbaum 2001 in Zürich hingewiesen. Ob diese Tat tatsächlich antisemitisch motiviert war, konnte jedoch nie definitiv geklärt werden.
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