Interview über Antisemitismus bei jungen Männern«Hass auf Juden und Hass auf Frauen gehen oft Hand in Hand»
Forensiker Jérôme Endrass hat 400 islamistische Gefährder untersucht. Er erklärt, warum eine Berufslehre vor Extremismus schützt und was die Woke-Welle mit Antisemitismus zu tun hat.
Herr Endrass, waren Sie überrascht, als Sie vom Messer-Attentat auf einen orthodoxen Juden in Zürich hörten?
Ich weiss, das lässt sich im Nachhinein leicht sagen, aber für viele Forensiker war das ein Verbrechen mit Ansage.
Warum?
Die Anzeichen waren schon lange da. Seit dem 7. Oktober finden regelmässig Anti-Israel-Demonstrationen statt, wo «From The River To The Sea» skandiert wird – im Wissen darum, dass jüdische Menschen diesen Slogan als bedrohlich erleben. Jüdische Organisationen berichteten von einer Zunahme antisemitischer Übergriffe.
Ein Messerangriff ist aber schon noch etwas anderes …
Zuerst sinkt die Hemmschwelle von antisemitischen Äusserungen, dann jene von Handlungen. Schliesslich steigt die Gewaltbereitschaft so an, dass jemand schwer verletzt wird. Dieses Eskalationsmuster können wir in allen Bereichen der Gewalt- und Sexualdelinquenz beobachten – und natürlich auch bei extremistisch motivierten Delikten.
Die Zürcher SVP warf den Linken im Kantonsrat vor, mit der Tabuisierung des muslimischen Antisemitismus den Vorfall begünstigt zu haben. Darauf verliessen SP, Grüne und AL geschlossen den Saal. Sie sind SP-Mitglied – verstehen Sie diese Reaktion?
Was mich an dieser Auseinandersetzung am meisten befremdet, ist die Instrumentalisierung des Antisemitismus. Dieser ist weder links noch rechts, sondern leider ein stabiler Begleiter in allen Bevölkerungsschichten. Und was ich im politischen Kontext noch weniger verstehe, ist, warum reflexartig auf die anderen gezeigt wird. Wird rechter Antisemitismus angesprochen, dann zeigen die Bürgerlichen auf die Linken – und umgekehrt. Mich persönlich stört der linke Antisemitismus mehr, weil er stärker mein Umfeld betrifft. Und wenn jene, mit denen ich in vielen Themen das Gedankengut teile, in so einem entscheidenden Punkt blind, ignorant oder intolerant sind, macht mich das viel ratloser, als wenn das Menschen tun, mit denen ich ohnehin politisch nie einer Meinung bin. Jeder sollte in dem Kontext doch vor der eigenen Haustür kehren und nicht als Erstes mit dem Finger auf andere zeigen.
Es wird gerade wieder mehr Prävention gegen Antisemitismus gefordert. Wenn dieser aber laufend zunimmt: Wird zu wenig gemacht oder das Falsche?
Die wohl wirksamste Reaktion in dem Kontext kam vom Verband der islamischen Organisationen Zürichs. Mit ihrem «Nicht in unserem Namen»-Statement haben sie genau das gemacht, was es nach so einem Vorfall braucht: Haltung zeigen, deeskalieren und Brücken bauen. Diese Reaktion kann man sich zum Vorbild nehmen.
Warum halten junge, muslimische Männer, die in einem westlichen Land aufwachsen, an ihrem Hass auf Juden fest?
In Kooperation mit deutschen Behörden hat unsere Arbeitsgruppe an der Uni Konstanz rund 400 islamistische Gefährder analysiert. Dabei sieht man, dass diese gut in unterschiedliche Fallgruppen unterteilt werden können. Da gibt es die, die psychisch schwer krank sind und zum Beispiel im Rahmen einer Psychose ein Verbrechen begehen, das als islamistisch motiviert gilt. Dann gibt es die Kriminellen, die ihre Religion als Legitimation brauchen, weitere Straftaten zu begehen. Eine dritte Gruppe sind jene, die sich aufgrund einer auffälligen Persönlichkeitsstruktur der gewaltbereiten Jihadisten-Szene anschliessen. Und schliesslich gibt es die Abgehängten, die durch alle Maschen fallen, als Verlierer gelten, keine Perspektive haben und im Extremismus die Möglichkeit sehen, jene Beachtung zu erhalten, die ihrer verkrachten Existenz doch noch einen Sinn verleiht.
Welche Gruppe ist die gefährlichste?
Die psychisch Kranken und die Kriminellen – aus unterschiedlichen Gründen. Die Angriffe der psychisch Kranken entstehen spontan, sind somit schwerer vorherseh- und verhinderbar. Etwa wenn jemand mit einem religiösen Wahn eine Stimme hört, die ihn dazu drängt, eine Person vor den Zug zu stossen. Und bei den Kriminellen sieht man viele Dissoziale, die Freude an der Gewalt haben und aus kleinstem Anlass auf jemanden losgehen. Die Ideologie ist für diese Gruppe dann mehr ein Freifahrtschein für schwerste Formen der Gewalt.
Lassen sich die Erkenntnisse auf die Schweiz übertragen?
Was die Gruppen der Kriminellen und der psychisch Kranken betrifft, bis zu einem gewissen Grad, ja. Aber gegenüber anderen Ländern hat die Schweiz zwei entscheidende Vorteile, die präventiv wirken: Erstens sehen wir hier viel weniger abgehängte Jugendliche. Es gibt bei uns – auch dank der Kleinräumigkeit – keine wirklichen Problemviertel mit Schulen, wo Gewalt und Extremismus an der Tagesordnung sind. Die Kleinräumigkeit hilft auch, Brücken zu bauen, indem die Menschen aus den verschiedenen Konfessionen in regelmässigem Austausch sind.
Und der zweite Grund?
Die Berufslehre ist so gut etabliert, dass weniger Jugendliche durch die Maschen fallen. Bevor sie abrutschen könnten, werden sie durch den Alltag mit Erwachsenen automatisch ein Stück weit entradikalisiert. Nichts ist so verheerend wie labile Jugendliche, die nur mit Gleichaltrigen zusammen und sich selbst überlassen sind.
Sie sagten kürzlich, es sei letztlich Zufall, welchem Extremismus jemand anhänge.
Richtig. Es braucht eine individuelle Disposition dafür, anfällig für extremistisches Gedankengut zu sein. Ob jemand dann links- oder rechtsextrem wird oder eben islamistisch, hängt oft vom Umfeld ab: Kanti-Schüler aus den Städten werden vermutlich eher linksextrem, auf dem Land, wo es konservativer zu- und hergeht, bietet sich eher Rechtsextremismus an. Und für muslimische Jugendliche mag der Salafismus naheliegender sein.
Sie machen die Woke-Bewegung mitverantwortlich für eine zunehmende Militanz in der Gesellschaft – auch in Bezug auf den Antisemitismus?
Woke ist ein sehr unscharfes Konstrukt und wird gerne instrumentalisiert. Ich sprach die Woke-Extreme an. Und diese Extremausprägung ist genauso problematisch wie alle anderen Extreme. Wenn an Universitäten die Anschläge vom 7. Oktober als eine legitime Reaktion auf Unterdrückung bezeichnet werden, dann haben wir ein Problem. Und wenn diese Einstellung mit einer Militanz auf der Strasse einhergeht, dann muss man sich nicht wundern, wenn sich Teile der jüdischen Bevölkerung eingeschüchtert fühlen.
Es kam die Forderung auf, den Jugendlichen auszuweisen. Sollte man nicht auch die Eltern in die Verantwortung nehmen?
Als Forensiker tue ich mir schwer damit, aufgrund von einem Einzelfall gleich einen Systemwandel zu fordern. Die aktuelle Betroffenheit ist mehr als verständlich und der damit einhergehende Ärger auch. Wir tun aber gut daran, die Situation mit kühlem Kopf zu analysieren. Und wir dürfen bei all den Emotionen nicht vergessen, dass das Umfeld des Täters schon so sehr belastet ist. Noch weiterführendere Massnahmen zu fordern, klingt für mich nach Überbeissen.
Eine britische Studie zeigte, dass nahezu alle islamistischen Attentäter zuvor wegen häuslicher Gewalt aufgefallen waren. Wie hängen der Hass auf den Westen, der Hass auf Juden und der Hass auf Frauen zusammen?
Hass auf Frauen und Antisemitismus gehen häufig Hand in Hand. Das sieht man nicht nur bei Islamisten, sondern auch in der rechtsextremen Szene. Die Gemeinsamkeiten von Hass auf Frauen und Antisemitismus liegen darin, dass man das Rad der Zeit zurückdrehen will. Zurück in eine Zeit, in welcher weder Minoritäten noch Frauen etwas zu melden hatten.
Fehler gefunden?Jetzt melden.