Neue Realität nach Trump-SchockIn diesen Bereichen besteht für Europa jetzt Handlungsbedarf
Donald Trump will einen Deal mit Wladimir Putin, über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg. Der alte Kontinent muss sich für eine neue Realität rüsten. Das sind die wichtigsten Punkte.

Eigentlich hätten die Europäer vorbereitet sein müssen: Donald Trump zieht seit seiner Rückkehr ins Weisse Haus das Skript aus dem Wahlkampf durch. Er kündigt Strafzölle gegen die europäische Industrie an, startet im Alleingang und über die Köpfe der Ukrainer hinweg Friedensverhandlungen mit Wladimir Putin. Und er droht mit dem Abzug der US-Truppen aus Europa, was ebenfalls ganz nach dem Wunsch des russischen Präsidenten ist.
Viel Zeit bleibt nicht, sich für die neue Realität zu rüsten. Zu dieser dürfte auch gehören, dass der alte Kontinent nicht mehr auf seinen amerikanischen Verbündeten zählen kann. Was jetzt zu tun ist – in sechs Punkten.
Die Ukraine, verraten?

Er werde den Krieg in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden beenden, hatte Donald Trump im Wahlkampf angekündigt. Jetzt will der US-Präsident sich etwas mehr Zeit nehmen, Ziel ist ein Waffenstillstand bis Ostern. Überraschender als das Tempo ist also das unorthodoxe Vorgehen. US-Verteidigungsminister Pete Hegseth überrumpelte die europäischen Verbündeten bei einem Nato-Treffen mit den amerikanischen Vorstellungen eines Deals.
Schockiert hat in Brüssel und in Kiew vor allem, dass der Amerikaner gleich schon wichtige Konzessionen an Wladimir Putin in Aussicht stellte. So soll die Ukraine nicht Nato-Mitglied werden und zudem auf Teile ihres Territoriums verzichten. Es ist eigentlich ein Anfängerfehler, schon vor dem Start von Verhandlungen die Karten auf den Tisch zu legen. Aber einiges deutet darauf hin, dass auch Absicht dahintersteht. Trump und Putin wollen schnell zu einer Einigung kommen. Da würden Ukrainer und Europäer am Verhandlungstisch nur stören.
Die Ostflanke, bald ungeschützt?

Wladimir Putin und auch Donald Trump geht es nur am Rande um die Ukraine. Der russische Präsident wirbt schon lange für eine andere «europäische Sicherheitsarchitektur». Der Mann im Kreml sieht sich seinem Ziel jetzt nahe, die Nato als westliches Bündnis zu zerstören und seinen Einflussbereich auszudehnen.
Wladimir Putin hat im US-Präsidenten einen willigen Partner gefunden, der mit Russland möglichst rasch wieder ins Geschäft kommen will. Unter Joe Biden wurde die US-Präsenz in Europa als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine auf 100’000 Soldaten aufgestockt. Donald Trump hat angedroht, einen Teil oder auch alle amerikanischen Truppen abzuziehen. Putin hätte dann freie Bahn.
Westliche Geheimdienste, Balten und Osteuropäer warnen immer dringlicher: Wladimir Putin hat auf Kriegswirtschaft umgestellt. Nicht nur die Produktion von Panzern und anderem Kriegsgerät gilt als deutliches Indiz, dass Russland Pläne hat, die über die Ukraine hinausgehen. Moskau führt bereits jetzt einen hybriden Krieg gegen die Europäer.
Die USA müssen nicht aus der Nato austreten, um den Schutzschirm des Bündnisses mit seinem Beistandsartikel infrage zu stellen. Wer glaubt noch, dass US-Präsident Trump den Balten zu Hilfe kommen würde, sollten russische Truppen dort einmarschieren?
Die Reaktion der Europäer

Die Reaktion der Europäer schwankt zwischen Unglauben und Resignation. Im Weissen Haus sitzt ein Mann, der den Sprechzettel von Wladimir Putin übernommen hat. Trumps Vize meint, nicht Russland oder China sei die Gefahr für Europa, sondern angebliche Restriktionen für die Meinungsfreiheit oder die Migration. Diese Woche hat Donald Trump Wolodimir Selenski einen Diktator genannt und beschuldigt, für den russischen Überfall quasi selber verantwortlich zu sein. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.
Alte Gewissheiten geraten ins Rutschen. Das transatlantische Bündnis galt seit Ende des Zweiten Weltkriegs als unerschütterlich. Es ist das Fundament für den Wohlstand und die Sicherheit der letzten Jahrzehnte. Aber sind die USA unter Donald Trump noch ein Partner, oder stimmt der Eindruck, dass der US-Präsident sich mit Autokraten wie Wladimir Putin oder Xi Jinping besser versteht? Der starke Mann in Peking muss sich geradezu ermutigt fühlen, das günstige Zeitfenster für eine Einverleibung Taiwans zu nutzen.
Im öffentlichen Bewusstsein ist dieser historische Bruch noch nicht wirklich angekommen. Im Wahlkampf für den deutschen Bundestag wird vor allem hitzig über Migration gestritten und nur am Rande darüber, was Deutschland als grösste Volkswirtschaft tun müsste, um auf die Bedrohungslage reagieren zu können. Das Machtvakuum ist auch in Brüssel spürbar, wo EU-Ratspräsident Antonio Costa vorerst darauf verzichtet hat, einen Sondergipfel einzuberufen. Mit der Begründung, dass ein Krisentreffen die Uneinigkeit der Europäer auf der grossen Bühne deutlich gemacht hätte.
Emmanuel Macron hat eine europäische Souveränität schon lange eingefordert, ist dabei vor allem in Berlin auf taube Ohren gestossen und darf sich jetzt bestätigt sehen. Es ist allerdings ein bitterer Triumph, denn die Macht des französischen Präsidenten ist inzwischen angeschlagen. Macron hat diese Woche mit Treffen im kleinen Kreis versucht, die Europäer auf eine gemeinsame Position zu den amerikanischen Zumutungen einzuschwören, mit beschränktem Erfolg. Der Franzose will am Montag Donald Trump in Washington besuchen und ein gutes Wort für die Europäer einlegen.
Verloren ohne atomaren Schutzschirm

Werden die USA nur ihre konventionellen Waffen abziehen oder auch den atomaren Schutzschirm über Europa einklappen? Trump hat jedenfalls im Wahlkampf angedroht, Europa im Fall eines russischen Angriffs nicht zu verteidigen. Die US-amerikanischen Atomwaffen lagern in Belgien, Italien, den Niederlanden, der Türkei und in Deutschland. Nirgendwo ist die Abhängigkeit der Europäer so deutlich wie bei der nuklearen Abschreckung. Experten mahnen deshalb schon länger, die Europäer müssten sich Optionen anschauen, wie sie selber nuklear abschrecken könnten.
Eine europäische nukleare Aufrüstung gilt als unrealistisch, zumindest solange Verteidigung in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten bleibt. Sonst würde sich sofort die Frage der Befehlsgewalt stellen. Von den europäischen Nato-Mitgliedern haben nur Grossbritannien und Frankreich eigene Atomwaffen. Macron hat Deutschland und den anderen EU-Partnern mehrfach eine Zusammenarbeit bei der nuklearen Abschreckung angeboten. Es ist aber umstritten, wie schnell und ob überhaupt eine Ausweitung des britischen und französischen Schutzschirms möglich wäre.
Immerhin gut gerüstet für den Handelskrieg

Immerhin, wenn es um den drohenden Handelskrieg mit den USA geht, ist Europa vergleichsweise gut aufgestellt. Brüssel könne innert Stunden oder Tagen zurückschlagen, zeigen sich Diplomaten zuversichtlich. Es wird damit gerechnet, dass Trump neben Abgaben auf Stahl und Aluminium Strafzölle auch auf europäische Autos oder Pharmaprodukte verhängen könnte. Die EU-Kommission hat in der Handelspolitik das Monopol und kann eigenmächtig Retorsionsmassnahmen beschliessen. In der ersten Amtszeit von Donald Trump hatte das ganz gut funktioniert. Die EU reagierte mit Strafzöllen auf amerikanische Produkte wie Whisky oder Motorräder der Marke Harley-Davidson, worauf der US-Präsident einen Rückzieher machte.
Die EU-Kommission hat angeblich auch jetzt eine Liste von Gegenmassnahmen vorbereitet. Ob die Rechnung diesmal aufgeht, ist allerdings unsicher. Trump hat gelernt und könnte versuchen, die Mitgliedsstaaten stärker gegeneinander auszuspielen. Etwa mit gezielten Zöllen gegen deutsche Autos.
Die Hoffnung stirbt zuletzt

Aber vielleicht kommt es ganz anders, und die Europäer werden sich unter Druck ihrer dramatischen Lage bewusst. Zuerst heisst es, die Bundestagswahl in Deutschland abwarten und auf eine handlungsfähige Regierung in Berlin hoffen. Denn ohne Deutschland geht wenig in Europa. In Berlin und in den anderen Hauptstädten müssten dann einige Tabus fallen, wie etwa bei der Frage gemeinsamer Schulden oder Eurobonds, um Generationsaufgaben bei der Verteidigung, dem Klimaschutz oder auch der Digitalisierung finanzieren zu können.
Auf dem reichen Kontinent fehlt es nicht wirklich am Geld, sondern am politischen Willen, die Integration etwa hin zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigung voranzutreiben. Noch ist Europa nicht verloren, doch ohne Quantensprung wird es nicht gehen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.