Analyse zum MedikamentenengpassDas Lieferketten-Problem ist nur mit einem EU-Netzwerk zu lösen
Die Apotheken-Präsidentin warnt vor einer Zuspitzung der Engpässe. In der Schweiz sind es vor allem zwei Probleme, die dazu führen. Sie zu lösen, wird eine Herkulesaufgabe. Ohne die EU wirds nicht gehen.
Der Medikamentenmangel spitzt sich zu. Diese Feststellung kommt von der Präsidentin des Apothekenverbandes Pharmasuisse. Es sei neu, dass alle Arten von Arzneien fehlten – und dies im Sommer, also ausserhalb der Haupterkältungszeit, sagte Martine Ruggli-Ducrot der Zeitung «Le Temps». Ihr Alarmruf hallte in fast allen Schweizer Medien wider. Doch wie geht es nun weiter?
Eigentlich ist die Ausgangslage klar: «Die Versorgung der Schweiz mit Medikamenten obliegt primär der Wirtschaft», stellte der Bundesrat diesen Mai auf eine parlamentarische Anfrage zum Medikamentenmangel fest. Der Bund könne nur in «schweren Mangellagen», bei einer Pandemie oder bei lebenswichtigen Medikamenten «eine subsidiäre Versorgungsaufgabe» einnehmen.
Weil die Probleme der Versorgung mit Medikamenten jedoch derart gravierend und langanhaltend sind, überlässt der Bund die Sache nicht mehr allein der Wirtschaft. Eine Arbeitsgruppe aus Bund, Kantonen, Industrie, Forschung und weiteren Akteuren soll Vorschläge machen, was zu tun ist. Mit Ergebnissen wird 2024 gerechnet.
Staatliche Reservation einzelner Produktionslinien
In der Arbeitsgruppe geht es nicht nur um bekannte Mittel wie eine Ausweitung der Pflichtlager. Diskutiert wird auch eine teilweise Verstaatlichung der Medikamentenproduktion: Die Produktion durch die Armeeapotheke (bei kleinen Mengen) oder die Reservation von Produktionslinien bei einzelnen Herstellern durch den Bund (womit grosse Mengen abgedeckt wären), wie Ernst Niemack sagt, Leiter von Vips, der Vereinigung der Pharmafirmen in der Schweiz.
Ein Staatseinstieg dürfte nicht durchsetzbar sein. Lösen liesse sich das Problem so auch nicht. Denn oft mangelt es an Grundstoffen für die Herstellung der Medikamente, die aus dem Ausland kommen. Dies, weil sie dort am günstigsten sind.
In Europa und der Schweiz nämlich sind Medikamente ohne Patentschutz zu billig. Standard-Antibiotika, Morphin oder Hustensaft für Kinder fehlen, weil sich die Herstellung kaum lohnt. Bei Medikamenten mit Patentschutz dagegen gibt es praktisch keine Mangellage – bei ihnen sind die Preise hoch. Und hier liegt das Kernproblem.
«Roche überlässt seine Medikamente nach Patentablauf der Welt.»
Die Rechnung der forschenden Pharmafirmen, die Medikamente herstellen, für die Patentschutz gilt, geht nämlich so: Wir sorgen für neue Therapien und können für sie enorme Preise verlangen. Nach dem Ablauf der Patentfrist sollen andere Firmen sie dann weiter herstellen und auf diese Weise die Grundversorgung sichern. «Roche überlässt seine Medikamente nach Patentablauf der Welt», sagte der neue Roche-Chef Thomas Schinecker diesen Juli. Das heisst: Andere können sie dann herstellen und zu einem günstigen Preis anbieten, der die Krankenkassen entlastet – damit Roche wieder Geld für neue, teure Therapien fordern kann.
In anderen Staaten läuft es ähnlich, die Preise für Basismedikamente sind dort sogar noch tiefer. Allerdings subventionieren Frankreich oder Österreich immerhin die Rückführung der Produktion nach Europa, um so die Lieferketten besser zu sichern.
«Vor allem aber muss in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union gehandelt werden.»
Auf das Lieferketten-Problem mit Asien weist auch die Pharmasuisse-Präsidentin hin. Nur ging das wegen der Mangellage-Schlagzeile fast unter: «Es ist unerlässlich, die kontinentale Produktion zu diversifizieren, damit Europa bei Problemen in den Lieferketten unabhängiger wird», sagte Ruggli-Ducrot. Was sie auch noch sagte, aber in der Agenturmeldung gar nicht zitiert wurde: «Vor allem aber muss in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union gehandelt werden.»
Um das Problem mit den Lieferketten zu lösen, braucht es die EU
Genau das weiss der Bund und auch seine Arbeitsgruppe. Die Schweiz allein könnte zwar in einem ersten Schritt die Preise für teure Medikamente senken und für günstige anheben respektive nicht noch weiter senken. Damit wird es auch für Hersteller von Basismedikamenten attraktiv, einen kleinen Markt wie die Schweiz zu beliefern. Doch das Lieferketten-Problem ist nur mit einem EU-Netzwerk zu lösen.
Bei den Verhandlungen mit der EU geht es in der Tat auch um die Medikamentenversorgung; eine Zusammenarbeit werde geprüft, sagt Daniel Dauwalder, Sprecher beim Bundesamt für Gesundheit. «Das erfolgt im Gesamtkontext der bilateralen Beziehungen Schweiz-EU», fügt er an. Aber auch zwei Jahre nach dem Platzen des EU-Rahmenabkommens bahnt sich hier noch keine echte Annäherung an.
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