Schwächelnde USADie Supermacht verliert ihre Superkräfte
Überall herrscht Krieg – und der einstige Weltpolizist schaut ohnmächtig zu. In Washington herrscht ein Machtvakuum, die Armee ist schwerfällig geworden.
Am Dienstag marschierten israelische Soldaten im Südlibanon ein, und der Iran griff Israel mit Raketen an. Jetzt warten alle auf den Gegenschlag Israels, und ein grosser Krieg im Nahen Osten wird täglich wahrscheinlicher. Und was machen die USA? Der einstige Weltpolizist mahnt immer wieder zur Mässigung – und schaut ohnmächtig zu.
Washington scheint unfähig, den Verlauf der Ereignisse zu steuern – obwohl 40’000 US-Soldaten in der Region versammelt sind und teils auch zu Einsätzen kommen. Am Freitag beschossen amerikanische und britische Streitkräfte Stellungen von Huthi-Rebellen im Jemen. Sie reagierten auf den Abschuss einer US-Drohne am Montag. Aber das war Symbolpolitik, denn an der faktischen Kontrolle der Schifffahrt im Roten Meer durch die Huthi änderten sie nichts.
Derzeit streiten sich Vertreter der USA und Israels über mögliche Ziele der Racheaktion gegen den Iran. Am verlockendsten für Israel wäre es, mit einem Angriff auf nukleare Installationen die Entwicklung der iranischen Atombombe zu behindern. Doch am Mittwoch sagte US-Präsident Joe Biden auf eine diesbezügliche Frage: «Die Antwort ist Nein.» Am Freitag lehnte er sogar Schläge gegen iranische Öleinrichtungen ab. Wahrscheinlich dachte er an die Bedeutung des Ölpreises für den US-Wahlkampf.
Ganz anders reagierte Donald Trump. Der hat sich deutlich für einen israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen ausgesprochen. Trump sagte an einer Wahlkampfkundgebung in North Carolina: «Bidens Antwort hätte lauten müssen: Zuerst wollen wir das Nukleare treffen, und später kümmern wir uns um den Rest.»
Dass sich Israels Premierminister Benjamin Netanyahu an Bidens Vorgaben halten wird, ist unter diesen Voraussetzungen überhaupt nicht sicher. Im Gegenteil: Man hat das Gefühl, Biden habe gegenüber Israel jegliche Autorität verloren und Netanyahu orientiere sich nur noch an Trump. Immer wieder hat er sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit über amerikanische Einwände hinweggesetzt. Obwohl Biden seit Monaten behauptet, ein Waffenstillstand sei in Reichweite, weitet Israel den Krieg mit der gezielten Tötung von Anführern der Hamas und der Hizbollah immer weiter aus. Dies selbst dann, wenn die Amerikaner gerade mit ihnen verhandeln. Über den Luftangriff in Beirut, dem Hizbollah-Boss Hassan Nasrallah zum Opfer fiel, orientierte Israel den US-Partner erst, als die Flugzeuge bereits in der Luft waren. Danach kam aus, dass Nasrallah gegenüber den Amerikanern kurz vor seinem Tod einem Waffenstillstand zugestimmt hatte. Bei der Ermordung von Hamas-Führer Ismail Haniya letzten Juli durch den israelischen Geheimdienst war es genauso.
Im September warnte der amerikanische Gesandte Amos Hochstein die israelische Regierung vor einer grösseren Aktion gegen die vom Iran kontrollierte Hizbollah. Stunden später explodierten Tausende sabotierter Pager der Hizbollah, und es folgten Angriffe auf deren Anführer durch israelische Kampfflugzeuge, bei denen über 500 Menschen starben.
Die Eigensinnigkeit des engsten Verbündeten der USA fusst zum Teil im grauenhaften Massaker von Hamas-Terroristen an israelischen Zivilisten, das sich morgen zum ersten Mal jährt. «Der 7. Oktober änderte alles», zitiert das «Wall Street Journal» David Schenker, einen Nahostspezialisten unter Donald Trump. «Wir haben es mit einem neuen Israel zu tun, das seine Sicherheitsziele unerbittlich und mit wenig Rücksicht auf US-Empfindlichkeiten verfolgt.»
Die Pax Americana hat ausgedient
Schuld an der Entzweiung ist aber auch die Biden-Regierung, die, zusammen mit der Mehrheit der US-Demokraten, Netanyahu fast so heftig ablehnt wie den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. Kamala Harris boykottierte sogar Netanyahus Rede vor dem US-Kongress. Biden sprach mit dem israelischen Premier letztmals am 21. August.
Doch es kam anders. Dank den militärischen Erfolgen der letzten Wochen feiert Netanyahu ein politisches Comeback. Israel gebärdet sich inzwischen als regionale Supermacht, während dem die globale Supermacht Bremssignale aussendet und Stabilität über alles stellt. «Wann immer eine Krise ausbricht», schreibt der aussenpolitische Kolumnist Walter Russell Mead im «Journal», «beeilen sich die Biden-Leute, die ‹Situation zu stabilisieren›, einen ‹Ausstieg› zu finden, zu ‹de-eskalieren›.»
Bidens Leute gehen davon aus, dass die rivalisierenden Mächte wie im Kalten Krieg ebenfalls an stabilen Verhältnissen interessiert sind und die von den USA überwachte internationale Ordnung bejahen. Eine Fehleinschätzung: Aufbegehrende Regionalmächte wie der Iran, Russland oder China wollen die US-Weltordnung zerstören, nicht stabilisieren.
Amerikas Führungsanspruch wird zusehends infrage gestellt
Für die dominierende Weltmacht mit ihren 750 Militärbasen in 80 Ländern ist das eine neue Situation. Im Zweiten Weltkrieg verfolgte Washington konsequent den Plan, zuerst Nazideutschland und dann das japanische Kaiserreich zu besiegen, um schliesslich mit einer robusten Friedensordnung einen dritten Weltkrieg zu verhindern. Im Kalten Krieg versuchten die USA erfolgreich, den Kommunismus ohne nuklearen Schlagabtausch einzudämmen, die Sowjetunion totzurüsten, bis sie an ihren eigenen Schwächen unterging. Nach 1991 wollte die unipolar dominante Supermacht eine regelbasierte Weltordnung durchsetzen.
Doch obwohl die USA den Kalten Krieg gewonnen haben, ist ihre Strategie für die Zeit danach gescheitert. Amerikas Führungsanspruch wird zusehends infrage gestellt. Im Nahen Osten wollen die iranischen Mullahs über ihre Stellvertreter Israels Macht brechen und damit auch den Einfluss der USA einschränken. Im Pazifik weitet China unter Xi Jinping seine Dominanz aus und plant die Einverleibung der abtrünnigen Provinz Taiwan. In Europa will Russlands Machthaber Wladimir Putin die geplante Nato-Osterweiterung mit der Invasion der Ukraine durchkreuzen.
In allen drei Regionen könnten sich die Konflikte zum Weltkrieg ausweiten. Und in allen drei Fällen tragen die USA dafür eine gewisse Mitverantwortung, weil sie unter Biden zu zögerlich vorgehen. Wie zuerst unter Präsident Barack Obama versucht Washington, Teheran für ein neues regionales Gleichgewicht zu gewinnen, indem es die gegen den Iran verhängten Sanktionen lockerte. Im Fall Taiwans rüttelten US-Politiker zum Missfallen Pekings an der Ein-China-Politik, ohne die Folgen zu bedenken. Putin deutete Amerikas Blamage beim Afghanistan-Abzug als ein politisches Signal und fühlte sich zum Einfall in die Ukraine ermutigt.
Dem US-Militär fehlt die Munition
Biden konnte zudem nicht verhindern, dass sich die Widersacher gegen Amerika verbündeten. Dies liegt auch an der schwindenden Abschreckung des einstigen Weltpolizisten. Im Juli kam eine überparteiliche Expertengruppe in Washington zum Schluss, dass die USA ihre militärische Schlagkraft in alarmierendem Ausmass eingebüsst haben. In einem 132-seitigen Bericht schreibt die «Kommission zur nationalen Verteidigungsstrategie», dem Militär fehlten «sowohl die nötigen Fähigkeiten wie die Kapazität, um zuverlässig abzuschrecken und im Gefecht siegen zu können». Konkret: Die USA würden den Zweikampf mit China oder Russland nicht mehr gewinnen.
Laut dem einstimmig verabschiedeten Bericht fehlt es den US-Streitkräften an Kriegsschiffen, Munition, Soldatinnen und Soldaten sowie an hochmodernen Waffen. Diese Mängel liessen sich nicht auf die Schnelle beheben, selbst wenn das Verteidigungsbudget von gegenwärtig 842 Milliarden Dollar erhöht würde. Dafür sei das Beschaffungswesen des Pentagon viel zu schwerfällig. Vor allem fehle den USA die militärisch-industrielle Infrastruktur hinsichtlich Fertigungsstätten, Fachkräften und kritischer Rohstoffe.
Mittelfristig drohen die USA hinter das kommunistische China, ihren grössten Rivalen, zurückzufallen. Die Volksbefreiungsarmee verfügt inzwischen über die grösste aller Kriegsflotten und bezüglich Truppenzahl das stärkste Landheer. Sie besitzt Hyperschall-Lenkwaffen, die den US-Streitkräften laut dem Bericht fehlen.
Hunderte Raketen an Chinas Südküste würden im Fall eines Kriegs um Taiwan US-Flugzeugträger und ihre Begleitschiffe angreifen. Deren Vorräte an Lenkwaffen wären nach heutigem Stand in einer Woche erschöpft.
Der verheerende Zustandsbericht vermochte indes die Öffentlichkeit nicht wachzurütteln. In der Presse fand er fast keinen Niederschlag. Kolumnist Mead schreibt: «Der Report sank wie ein Stein.»
Obwohl sich weltweit Gefahren zusammenbrauen, interessieren sich in den USA die wenigsten für Geopolitik. Im laufenden Wahlkampf spielt sie eine kleine Rolle. Es kommt hinzu, dass Amerikas grosse Parteien aufgrund der tiefen politischen Spaltung längst nicht mehr am gleichen Strick ziehen. Anders als im Kalten Krieg werden die Maximen der Aussenpolitik nicht mehr von der Mehrheit der Republikaner und der Demokraten getragen. Das zeigt sich bei den aktuellen Kriegen: Die Demokraten und die Präsidentschaftskandidatin Harris stützen den Abwehrkampf der Ukraine mindestens rhetorisch, verraten aber Zweifel am Schulterschluss mit Israel. Trump und seine Republikaner dagegen halten zum jüdischen Staat, während viele von ihnen im Ukraine-Krieg auf ein unverzügliches Ende drängen, selbst wenn das bedeutet, dass die Ukrainer grosse Gebiete an die Russen abgeben müssen.
Eine Präsidentin Harris würde Bidens Aussenpolitik im Wesentlichen fortsetzen und die laufenden Krisen nicht neu beurteilen. Unter ihr hätte das sicherheitspolitische Establishment, auch «Blob» genannt, weiterhin das Sagen. Anders im Fall eines Wahlsiegs von Trump: Dessen Aussenpolitik würde mit Konventionen aufräumen und Konflikte möglichst beilegen. Die Aussicht auf «America First» lehrt den «Blob» das Fürchten: Nicht weniger als 700 frühere Aussen- und Verteidigungsminister, Ex-Botschafter, Generäle im Ruhestand und ehemalige Beamte baten im September die Wählerschaft in einem Brief, ihre Stimmen auf keinen Fall für Trump einzulegen.
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