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Interview zum Tod des Hizbollah-Chefs
«Man kann durchaus von einem Enthauptungs­schlag sprechen»

FILE - Hezbollah leader Hassan Nasrallah speaks during a rally to mark Jerusalem day, in Beirut's southern suburb, on Aug. 2, 2013. (AP Photo/Hussein Malla, File)
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Stundenlang war darüber spekuliert worden, ob Hassan Nasrallah die Bombardierung des Hizbollah-Hauptquartiers im Süden Beiruts überlebt hat. Israel hatte bunkerbrechende Projektile von enormer Sprengkraft eingesetzt. Am Samstagvormittag verkündete ein Sprecher der israelischen Armee der Weltöffentlichkeit: Nasrallah ist tatsächlich tot. Etwas später bestätigte dies auch die Hizbollah. Ein Schlag mit Auswirkungen auf die gesamte Region.

Herr Schulze, was bedeutet der Tod des Hizbollah-Chefs?

Bisher haben sich weder die Hizbollah noch der Iran ausführlich dazu geäussert, deshalb ist es für eine Beurteilung noch zu früh. Von der militärischen Führungsebene der Hizbollah ist nun aber kaum mehr jemand übrig, man kann deshalb durchaus von einem Enthauptungsschlag sprechen. Ob das den Tod für die Organisation bedeutet, wage ich allerdings zu bezweifeln.

Israel vermeldete schon in den letzten Wochen fast täglich den Tod wichtiger Hizbollah-Kommandanten. Ist die Hizbollah überhaupt noch handlungsfähig?

Die ganze Befehlsebene hat sich wegen des Verlusts der Führungskräfte um eine Stufe nach unten verlagert, auf die Ebene der Subkommandanten. Diese sind teilweise noch radikaler als die früheren Chefs. Zudem ist die Organisation nun schwieriger zu kontrollieren. Dass einer der Subkommandanten diese Woche eine der weitreichenden Raketen in Richtung Tel Aviv losschickte, ist Ausdruck davon. Das war nicht im Sinn des Iran und der Gesamtorganisation. Zur Schwächung trug auch bei, dass Israel das Kommunikationssystem der Hizbollah systematisch zerstört hat. Die Terrormiliz verfügt über 380 oder 400 Kommandoeinheiten, die sich nun kaum noch vernetzen und absprechen können.

Was auffällt: In der arabischen Welt wird der Angriff Israels vielerorts bejubelt. Die Hizbollah scheint in der Region wenig Sympathien zu geniessen.

Das ist so. Die Hizbollah wird von vielen sunnitischen Muslimen als Handlanger des Iran wahrgenommen, etwa in Jordanien, auf der arabischen Halbinsel, selbst in Ägypten. Darum ist man der Hizbollah eher feindlich gestimmt. Bei der Hamas ist das anders.

Weshalb? Auch die Hamas wird vom Iran unterstützt.

Aber die Hamas gilt traditionell als sunnitische Organisation. Trotz der Unterstützung durch den Iran wird sie von der breiten Öffentlichkeit als arabisch angesehen und stösst deshalb auf Sympathie.

Die Hizbollah hat schon viel Unheil angerichtet: Sie half dem syrischen Diktator Assad, das eigene Volk abzuschlachten, und sie führte auch den Libanon ins Elend. Spielt das auch eine Rolle?

Auf alle Fälle. Das Image der Hizbollah ist in der arabischen Welt durch und durch negativ. Das hat nicht nur mit ihrer Rolle in Syrien zu tun, sondern auch mit der Situation im Irak, wo die Hizbollah ebenfalls eine Parallelstruktur aufgebaut und Aufgaben des Staates übernommen hat. Viele Beobachter in der arabischen Welt sind der Ansicht, dass die Hizbollah die arabische Sache unterläuft und bloss dazu da ist, die Einflusssphäre des Iran auszuweiten, ob im Libanon, in Syrien oder im Irak.

Smoke rises over Beirut's southern suburbs during Israeli strikes on September 28, 2024. Lebanon's Iran-backed Hezbollah group confirmed on September 28 that its leader Hassan Nasrallah had been killed, after Israel said it had "eliminated" him in a strike on south Beirut a day earlier. (Photo by JOSEPH EID / AFP)

Der Iran blieb bisher im Konflikt mit Israel erstaunlich ruhig und hat nur mit verbalen Drohungen reagiert. Wie erklären Sie sich das?

Der Iran hat imperiale Interessen, die nicht deckungsgleich sind mit den Interessen ihrer Proxys, also der Hizbollah, der Hamas und den Huthi. Die Mullahs werden bestimmt nicht militärisch eingreifen, um ihren Verbündeten beizustehen, sondern erst, wenn es den eigenen Interessen dient. Aktuell bremst der Iran die Hizbollah sogar aus. Zwar hat ihr der Iran mehrere Zehntausend Raketen geliefert, lässt aber zurzeit nicht zu, dass die grossen Raketen, die bis Tel Aviv reichen, auch eingesetzt werden. Dass diese Woche trotzdem eine in Richtung Tel Aviv abgefeuert wurde, war wohl ein Fehler.

Weshalb will das der Iran nicht?

Weil klar ist: Sobald dies passiert, wird der Iran dafür verantwortlich gemacht. Dann droht auch er zur Zielscheibe von israelischen Angriffen zu werden.

Sie sagen, der Iran und die Hizbollah verfolgen unterschiedliche Ziele. Beide wollen doch Israel auslöschen.

Das ist zu allgemein formuliert. Das oberste Ziel des Iran laut Verfassung ist es, dem «Verborgenen Imam», der als Künder der Endzeit, als Mahdi, das Reich der Gerechtigkeit gründen wird, den Weg zu ebnen. Dazu muss nach iranischer Staatsdoktrin Jerusalem wieder einer «islamischen Herrschaft» unterstellt sein. Die Unterstützung der Palästinenser oder der Hizbollah durch den Iran hängt entscheidend davon ab, ob sie hilft, dieses übergeordnete Ziel zu erreichen, dazu gehört ganz zentral die Eroberung Jerusalems.

Es gibt auch die These, der Iran brauche seine Proxys Hamas, Hizbollah und Huthi als nützliche Idioten, als Kanonenfutter im Kampf gegen Israel, um die eigenen Kräfte zu schonen.

Das mag sein. Bisher machte der iranische Revolutionsführer Khamenei in allen Reden deutlich, dass er nicht möchte, dass das Land militärisch in den Krieg hineingezogen wird. Ich habe aber meine Zweifel, ob er dies auf Dauer aufrechterhalten kann, denn die Proxys erwarten vom Iran aktive Unterstützung.

Schon länger geht die Befürchtung um, aus dem Libanon werde ein zweites Gaza. Zu Recht?

Das ist tatsächlich möglich, wenn es so weitergeht. Allerdings sind die militärischen Absichten Israels ganz andere als in Gaza. Israels Ziel ist es nicht, die Hizbollah gänzlich niederzuringen, wie sie das mit der Hamas versucht. Es geht darum, dass die Zehntausenden von Israelis wieder nach Hause können, die wegen der ständigen Raketenangriffe aus ihren Dörfern im Norden des Landes flüchten mussten. Gleichzeitig soll garantiert werden, dass sich die Hizbollah so weit aus dem Süden des Libanon zurückzieht, dass auch die libanesischen Geflüchteten zurückkehren können.

Islamwissenschafter Reinhard Schulze, Direktor am Forum Islam und Naher Osten (FINO) der Universität Bern am 21.01.2022 in Bern. Foto: Raphael Moser / Tamedia AG

Der Libanon galt lange als «die Schweiz des Nahen Ostens». Seit einigen Jahren gilt das Land als failed state. Wie konnte das passieren?

Der Absturz begann 1972, nachdem Milizen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) vergeblich das jordanische Königshaus zu stürzen versuchten und dann in den Libanon flüchteten. Die Konfliktgeschichte ist natürlich noch viel älter, aber seit 50 Jahren besteht Kontinuität. Mit der PLO kam ein militanter, bewaffneter Akteur ins Land, das Gewaltmonopol des Staates brach zusammen. Bereits 1974 entstand dann die erste schiitische Widerstandsorganisation, also lange vor dem israelischen Einmarsch im Südlibanon von 1982. Auf den zweiten Libanonkrieg 2006 folgten zwischen schiitischen Milizen erneut bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sich die Hizbollah durchsetzte und dann ihren proiranischen Kurs verstärkte. Das Land ist ein einziger Konfliktteppich, bei dem man sich darüber wundert, dass es immer noch gelingt, so etwas wie eine zivile Ordnung aufrechtzuerhalten, dass also die Stromversorgung noch ab und zu funktioniert, dass es noch Krankenhäuser gibt.

Die Umwälzungen in den 1970er-Jahren führten auch dazu, dass die Christen im Land nicht mehr in der Mehrheit waren. Welche Bedeutung hat dies?

Die libanesischen Christen sind keine einheitliche Gruppe. Es gibt eine starke Fraktion, die eng mit der Hizbollah zusammenarbeitet. Auch der ehemalige Präsident Emile Lahoud gehört zu dieser Fraktion. Es ist zu vereinfacht, die Konfliktlinien nur entlang der konfessionellen Gruppen zu ziehen. Auch alte Familienfehden, Clans und Migrationsgeschichten spielen eine Rolle. Innerhalb der christlichen Gemeinschaften gibt es zudem eine grosse Rivalität zwischen den Griechisch-Orthodoxen und den Maroniten, die mit Sunniten oder Drusen unterschiedliche Allianzen eingehen.

Militärisch hat die schiitische Hizbollah das Land in Geiselhaft. Wie gross ist ihr Rückhalt in der Bevölkerung?

Maximal ein Viertel steht hinter ihr. Selbst unter der schiitischen Bevölkerung stehen nur etwa ein Drittel hinter ihr. Die Hizbollah-Unterstützer leben aber fast alle in denselben Regionen, deshalb wirkt die Unterstützung oftmals stärker, als sie tatsächlich ist.

Wie konnte die Hizbollah trotzdem so viel Macht erlangen?

Ähnlich wie die Hamas hat sie eine alternative staatliche Organisation aufgebaut, mit einer starken sozialen Komponente. Sie sorgt zum Beispiel dafür, dass die Menschen in den Krankenhäusern versorgt werden, dass sie über Medikamente verfügen, dass sie alles Nötige bekommen, um zu überleben. Im Gegenzug verlangt sie Loyalität und dass sich aus der Familie ein oder zwei Söhne den Kampfeinheiten anschliessen. Dieses System wird nun auch in Syrien, im Irak und im Jemen erprobt.

Was denken Sie, wird Israel noch eine Bodenoffensive starten?

Vor dem Tod Nasrallahs hätte ich gesagt, eher nicht. Jetzt ist die Situation natürlich eine andere, ich halte eine Bodenoffensive aber weiterhin für wenig wahrscheinlich. Eine solche Operation im Südlibanon hätte eine ganz andere Dimension als in Gaza. Das Verteidigungssystem, das die Hizbollah nach 2006 aufgebaut hat, ist erheblich komplexer und sehr viel schwieriger zu durchbrechen. Viel hängt aber davon ab, ob die Hizbollah irgendwann einlenken wird und sich aus dem Süden zurückzieht.

Selbst im deutlich kleineren Gazastreifen bekundet Israel viel Mühe.

Das ist tatsächlich erstaunlich. Nach elf Monaten ist es der hochgerüsteten israelischen Armee nicht gelungen, die volle Kontrolle über 360 Quadratkilometer zu erlangen. Weshalb dem so ist, werden irgendwann die Militärhistoriker aufarbeiten können. Im Libanon kommt die Gefahr hinzu, dass sich die reguläre libanesische Armee irgendwann genötigt fühlt, in den Konflikt einzugreifen. Das würde die Situation nochmals komplett verändern.

Der Gazakrieg ist für die Israelis auch deshalb so schwierig, weil dort immer noch Geiseln sind. In der öffentlichen Diskussion in Israel dreht sich alles um deren Schicksal. Die Hizbollah hat keine Geiseln.

Man bekommt den Eindruck, dass das Schicksal der Geiseln nicht mehr so stark wahrgenommen wird, seit sich der Fokus auf den Libanon-Krieg verschoben hat. Die symbolische Bedeutung von Geiseln für die Israelis, selbst wenn sie tot sind, sollte man aber nicht unterschätzen. Bereits im Libanon-Krieg von 2006 waren sie sehr wichtig. Es könnte daher durchaus sein, dass die Hizbollah noch eine Entführung organisiert, um auch wieder diesen Trumpf in der Hand zu haben.