Parteitag der DemokratenVom Coach zur Nummer 2 – so schmiedete Tim Walz seinen Aufstiegsplan
Vizekandidat Walz pflegt das Image des einfachen Amerikaners. Der Politiker hat seine Karriere in Richtung Weisses Haus sorgfältig vorbereitet.
Es ist noch gar nicht lange her, da war Tim Walz kein Politiker, dessen Reden in sämtlichen anderen Zeitzonen mitverfolgt werden. Sondern lediglich der Gouverneur von nicht einmal sechs Millionen Nordamerikanern, deren Tagesablauf der obskuren Central Time folgt und sich durch eine eigensinnige Bedächtigkeit auszeichnet. Walz ist ein typischer Sohn dieser Mitte der Vereinigten Staaten, aufgewachsen in einem Dorf von 400 Einwohnern in Nebraska. Seine Laufbahn, in aller Kürze: Soldat, Lehrer und Footballcoach, Kongressabgeordneter für die Demokraten, gewählt in einem konservativen Distrikt, seit 2019 Gouverneur von Minnesota im weiten Mittleren Westen.
Ein ausserordentlich gewöhnlicher Midwestern Dad
Sein Image als ausserordentlich gewöhnlicher «Midwestern Dad» hat Tim Walz sorgsam gepflegt – bis es ihn nun auf die Bühne des United Center in Chicago führte, wo er sich am Mittwoch als Vizepräsidentschaftskandidat der Demokraten vorstellte. Nicht einmal vier Wochen sind vergangen, seit Kamala Harris die Führungsrolle in diesem Wahlkampf von Joe Biden übernommen hat. Erst vor zwei Wochen holte sie sich Tim Walz an ihre Seite, weniger als drei Monate ist es hin bis zum Wahltag am 5. November, bei dem Harris/Walz auf dem Wahlzettel der Demokraten stehen wird. Walz muss sich beeilen: Vier von zehn Amerikanern sagen, sie wüssten zu wenig über den 60-Jährigen, um sich eine Meinung über ihn zu bilden.
Ist er wirklich nur der einfache Bürger, der ins Zentrum der Macht in Washington vordringen will, um sich dort für das Gute einzusetzen? Der einfache Amerikaner aus dem Filmklassiker «Mister Smith Goes to Washington», in dem sich James Stewart als Normalbürger mit bodenständiger Ehrlichkeit in der korrupten Hauptstadtpolitik durchsetzt? Ein derart normaler Bürger, dass er in einer Politkarriere von 16 Jahren nie mit Teleprompter geredet hatte, bevor ihn Kamala Harris zur Nummer zwei machte?
Es ist seine bekannte Kabinenansprache
Als Tim Walz am Mittwochabend auf die Bühne des Parteikongresses trat, um diesen Werdegang zu erklären, liess er dazu das Lied einspielen, in dem John Mellencamp die Herkunft aus einem «Small Town» besingt. Anders als seine Vorredner begrüsste Walz das Publikum an den Bildschirmen zu Hause. Dort muss er sich noch vorstellen, das Publikum in der Arena hatte er ohnehin in der Tasche, selbst mit dem inzwischen weitum bekannten Redetext, den er vortrug. Die Ansprache hatte er für die Tournee mit Harris durch die entscheidenden Swing-States entwickelt und nun schon beinahe ein Dutzend Mal vorgetragen.
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Es ist die Kabinenansprache eines Coaches, der seine Footballmannschaft für das wichtigste Spiel der Saison motiviert. Die Arena war nur zu bereit, sich aufpeitschen zu lassen – mit «Coach Walz»-Schildern und begeistertem Jubel, der selbst den Begeisterungssturm für Barack und Michelle Obama vom Vorabend zu übertönen schien. Donald Trump und seinen Vizepräsidentschaftskandidaten J.D. Vance griff Walz scharf an und machte sich über sie lustig mit der längst viral gegangenen Bemerkung, die beiden seien «weird», «seltsam».
Kamala Harris und er würden hingegen für die Mittelklasse sorgen, mit tieferen Steuern, billigeren Medikamentenpreisen und günstigeren Häusern, versprach Walz. Mit inzwischen zum Markenzeichen gewordenen Sprüchen wie «Kümmere dich um deine eigenen verdammten Angelegenheiten» verteidigte er das Recht auf Abtreibung. Er rief sein «Unterschätze nie einen Lehrer», er erzählte, er habe mit Republikanern Kompromisse schliessen gelernt, ohne seine Werte zu kompromittieren.
Walz beschränkte sich auf die Bekräftigung der Slogans Freiheit und Freude und ein sehr vages politisches Programm. Bereits nach einer kurzen Viertelstunde holte er zu Neil Youngs «Rockin’ in the Free World» seine Frau, seine Tochter und seinen Sohn auf die Bühne, liess sich bejubeln und verschwand nach wenigen Minuten wieder.
Ehrlich – und auch sehr zielstrebig
Was Walz bei seinem Auftritt nicht erwähnte, ist die Sorgfalt, mit der er seinen Aufstieg Richtung Weisses Haus geplant hatte. Weggefährten attestieren ihm, ein äusserst authentischer, ehrlicher und engagierter Politiker zu sein – und ein sehr zielstrebiger zugleich. Die Kampagne begann vor genau zwei Jahren, kurz nach den nationalen Zwischenwahlen. Walz feierte in Minnesota einen dreifachen Sieg: Er wurde als Gouverneur wiedergewählt, seine Partei eroberte den Senat in St. Paul, alle politischen Schalthebel in dem Staat waren fortan in den Händen der Demokraten.
Da schmiedeten der Gouverneur und seine Berater einen Plan, um ihn auf die nationale Bühne zu heben, wie die «New York Times» nachzeichnete, als die Saat bereits aufgegangen war. In der Erwartung, dass sich für die Wahlen 2024 möglicherweise ein Türchen öffnen würde für einen erfolgreichen Gouverneur aus dem Mittleren Westen, vermarktete das Team das «Minnesota Miracle» bei Gastgebern von TV-Sendungen, bei Journalisten und Podcastmoderatoren. Das Wunder bestand aus der Umsetzung einer ganzen Wunschliste progressiver Rezepte: dem Schutz des Rechts auf Abtreibung, bezahltem Elternschafts- und Krankheitstagen, legalem Marihuana, Führerausweisen für Migranten ohne gültige Papiere, unter anderem.
Gleichzeitig stellte sich der Gouverneur für alle möglichen Parteiämter und Ausschüsse zur Verfügung, zur Vorbereitung des Parteikongresses, für die Leitung der Vereinigung Demokratischer Gouverneure, für Spendenanlässe der Partei. Alles zeitraubende Aufgaben, für die ein feuchter Händedruck der häufigste Dank ist. Die «New York Times» verglich Walz mit einem hilfsbereiten Nachbarn, der sich freiwillig zum Schnee schaufeln meldet.
Von der Mitte nach links und zurück
Doch er wusste auch ganz genau, was er da machte, fernab von der Aufmerksamkeit der Hauptstadtmedien. Er war als Quereinsteiger zur Politik gelangt, weil ihn seine Schüler dazu ermuntert hatten, wie er zu erzählen pflegt. Als er einmal die Wahl in den US-Kongress geschafft hatte, blieb er zwölf Jahre lang und erwarb sich den Ruf als einer der effektivsten Parlamentarier, weil er über die Parteigrenzen hinweg Allianzen schmiedete. Er war in Washington einer der konservativsten Demokraten, zeigte aber Geschmeidigkeit. Als seine Partei in Minnesota die Kontrolle übernahm, wandelte er sich zum linken Gouverneur mit progressiver Agenda.
Nun soll Walz für Harris wieder in die Mitte rücken und seine Verdienste als ehemaliger Soldat, als Footballcoach, als Jäger, als Träger von Flanellhemden und Mützen in Camouflage-Muster, hervorstreichen. Als Politiker, der die Sprache der einfachen Leute zu sprechen versteht, jener, der die Wechselwähler in der Mitte für das Duo Harris/Walz gewinnen soll. Er liess in Chicago keinen Zweifel daran, dass er auch das ebenso diszipliniert zu tun gedenkt, wie er sein politisches Profil aufgebaut hat – ganz anders als James Stewart in dem legendären Film über Mister Smith, den einfachen Bürger.
Die Partei liess ihn aber ebenso deutlich spüren, dass er in Washington die zweite Geige zu spielen haben würde. Bei seinen jüngsten Auftritten mit Kamala Harris war er von Zehntausenden Fans so enthusiastisch gefeiert worden, dass nicht immer mehr so klar war, wem welcher Anteil an dem warmen Applaus galt.
Sie lachen Donald Trump jetzt einfach aus
Am Mittwoch aber, an dessen Ende Tim Walz den Hauptakt spielen sollte, war er stundenlang nur eine Randnotiz. Die Vorredner priesen Kamala Harris, deren Auftritt am Donnerstagabend den Höhepunkt des Parteikongresses darstellen soll. Ausführlich waren auch die Warnungen vor Donald Trump – und die Witze über den Republikaner. Minderheitsführer Hakeem Jeffries verspottete ihn als Freund, der einfach nicht verschwinden will, obwohl man ihn längst davongejagt hat: «Donald Trump, wir haben aus gutem Grund Schluss gemacht.»
Auch der frühere Präsident Bill Clinton, vor 22 Jahren aus dem Weissen Haus ausgezogen, machte sich über Trump lustig. Zwei Tage nach seinem 78. Geburtstag sagte Clinton, er sei immer noch nicht ganz so alt wie Donald Trump. Er musste nicht aussprechen, dass er auch fast vier Jahre jünger ist als Joe Biden. Ihn lobte Clinton ausführlich dafür, dass er freiwillig die politische Macht aus der Hand gegeben hat.
Joe Biden erhielt am Mittwoch auch Lob von Nancy Pelosi. Die frühere Speakerin des Kongresses hatte hinter den Kulissen die Fäden gezogen, als Biden seine Kandidatur nicht niederlegen wollte – so effektiv, dass ihre Fans am Parteitag Aufstecker mit der Aufschrift «The Godmother» und Pelosis Konterfei trugen. Auf ihre Rolle ging die Meisterin der politischen Macht bei ihren Bemerkungen nicht ein. Als Überraschungsgast warb ausserdem Oprah Winfrey für die Wahl von Kamala Harris. Das Wort der afroamerikanischen Talkmasterin hat Gewicht: 2008 hatte sie es für einen gewissen Barack Obama in die Waagschale geworfen.
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