Parteitag der Demokraten«Mit Freude vorwärts»: Harris-Kür in Chicago
Es ist nicht lange her, da galt Joe Bidens Vize als Fehlbesetzung, nun führt sie in Umfragen. Am Parteitag ist eine symbolische Ablösung der beiden geplant.
Die Bühne ist bereit für Jill und Joe Biden, gleich am Montag sind sie dran im United Center von Chicago, wenn der Parteitag der Demokraten beginnt. «Der Präsident wird die Grundsatzrede an der Democratic National Convention halten», meldet das Weisse Haus, die First Lady werde ebenfalls sprechen. Das Ehepaar hat am Wochenende auf seinem Landsitz in Camp David geübt, der Termin dürfte beiden dennoch nicht leichtfallen.
Noch vor einem guten Monat sah es ja so aus, als wäre Biden der Top-Act beim Finale am Donnerstag, dem vierten und letzten Tag des Parteitags. Er hatte keinen wirklichen Gegner bei den Vorwahlen und die nötigen Delegierten schnell beisammen, dies sollte sein Fest werden. Aber Präsidentschaftskandidatin und Schlussrednerin wird jetzt Kamala Harris, seine Vize. (Lesen Sie zu Kamala Harris auch den Artikel «Harris stellt Wirtschaftsprogramm vor – Trump spricht von Kommunismus».)
Sie ist die Attraktion der Veranstaltung und ihr Chef nur noch ein Mann, der dank seiner Bilanz und der Entscheidung, nicht noch einmal anzutreten, sicher mit allen Ehren empfangen wird, aber nach der Einleitung doch wieder verschwindet, später wird ohne ihn gefeiert. Als passe der 81-Jährige nicht mehr zum Aufbruch der Demokraten, als wolle er nicht weiter stören. Wie geht er nach fünf Jahrzehnten Spitzenpolitik mit diesem Abschied um?
«Kamala» ist plötzlich ein Markenzeichen
Es war ein langer Kampf mit sich selbst, ehe der Rückzug Ende Juli feststand, quälende Wochen nach seinem stammelnden Auftritt im TV-Duell gegen Donald Trump. Der Druck aus den eigenen Reihen hat ihm zugesetzt, unter anderem auf Nancy Pelosi ist er offenbar nicht gut zu sprechen. Die Demokratin gehörte zu jenen, die ihm öffentlich empfahlen, den Weg frei zu machen. Seitdem ist der mächtigste Politiker der Welt eine «lame duck», ein Auslaufmodell.
Natürlich muss Biden mitbekommen, wie seit dem Stabwechsel die Stimmung umgeschlagen ist. Bis vor gar nicht so langer Zeit galt seine Stellvertreterin vielen Landsleuten als Fehlbesetzung, nun wird sie umschwärmt. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Wie eine göttliche Intervention».)
Der Wandel ist frappierend, als hätte der Personalwechsel diese Partei über Nacht in einen blendend gelaunten Club von Optimisten verwandelt. «Kamala!», rufen ihre Fans, ihr Vorname ist plötzlich Markenzeichen. Sie führt inzwischen in den Umfragen gegen Trump, sogar in manchen wahlentscheidenden Swing-States, wobei das knapp elf Wochen vor der Wahl wenig zu sagen hat.
Demonstrationen von propalästinensischen Gruppen
Während bei der Republican National Convention in Milwaukee im Juli nur wenige Demonstranten auftauchten, werden in Chicago einige Tausend erwartet, allein die Coalition to March on the DNC will am Montag an die 200 Gruppen versammeln. Die Vereinigung fordert einen Stopp der US-Waffenhilfe für Israel im Gazakrieg, ausserdem mehr Geld für Bildung und Gesundheit, mehr Rechte für Immigranten, Streikende, Schwangere. Beim Thema Abtreibung ist Harris dieser Bewegung nahe, beim Thema Nahost wird es komplizierter.
Kritiker von ganz links rufen dem Präsidenten derzeit gern ein «Genocide Joe» hinterher, ungeachtet seiner eigenen Kritik an der israelischen Regierung. Die designierte Erbin bahnt sich ihren Weg zwischen den Lagern, noch gehört sie zur Regierung Biden. Polizei und Secret Service sollen auf dem Parteitag reichlich vertreten sein, gleichzeitig will das liberale Chicago seinen Ruf wahren. Man werde Sicherheit und freie Meinungsäusserung in Einklang bringen, verspricht der Bürgermeister Brandon Johnson, ein Demokrat und vormaliger Gewerkschafter.
Drinnen in der Arena wird sich die demokratische Prominenz hinter der Bewerberin versammeln, in der gegenwärtigen Euphorie wird wohl niemand aus der Reihe fallen. Vor den Bidens soll Hillary Clinton das Wort haben, am Dienstag Barack Obama, für Mittwoch sind Bill Clinton und Vizepräsidentschaftskandidat Tim Walz eingeplant. Am Donnerstag steht der Höhepunkt an, da wird Harris ihre Rede halten. Am Sonntag tourte das Duo Harris/Walz noch durch Pennsylvania, einen besonders umkämpften Bundesstaat. Ihr Motto: «On the Road to Chicago».
Am vergangenen Donnerstag waren Biden und Harris zum ersten Mal gemeinsam aufgetreten, seit sie seine Bewerbung übernommen hat. Erst sprach sie, dann er, sie lobten sich gegenseitig, es gab eine Umarmung, der Saal tobte. Biden nannte sie «einen aussergewöhnlichen Menschen», sie werde eine höllisch gute Präsidentin. Für Trump hatte er dies parat: «Der Typ, gegen den wir antreten, wie heisst der? Donald Dump oder Donald wie auch immer» – «dump» ist kein Kosewort. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Trump: ‹Ich sehe viel besser aus als Kamala›».)
Dennoch stand Biden etwas verloren neben ihr, als die strahlende Harris ans Pult trat. Der Alte und die Neue, der er eher widerwillig Platz gemacht hatte. Bisherige Strategen Bidens wechselten zuletzt an ihre Seite. Mit ihr ist von «joy» die Rede, von Freude, von «forward», vorwärts.
Biden «ist sehr stolz auf seine Vizepräsidentin»
Er ahnt vermutlich, dass sie den Kontrast zu Trump wesentlich besser verkörpert, so schmerzhaft diese Erkenntnis auch sein muss. Seinen Vortrag in Chicago soll Biden vorbereitet haben wie seine Rede an die Nation Anfang März, als er noch der unbestrittene Kandidat war.
Der Präsident wird wohl an seine Erfolge erinnern und für seine Nachfolgerin werben. Es wird um den Kampf für die Demokratie gehen und gegen Trump. «Er versteht, dass dies ein unglaublich wichtiger Moment ist», hat seine Sprecherin kürzlich gesagt. «Er ist immer noch sehr der Anführer der Partei, nicht wahr? Und das nimmt er sehr ernst. Und er ist auch sehr stolz auf seine Vizepräsidentin.»
Harris werde zu ihm auf die Bühne kommen, ist kurz vor dem Parteitag zu hören. Diese Hommage wäre angemessen – eine symbolische Ablösung. Dann reist Biden in den Süden Kaliforniens, um sich zu erholen und den Rest seiner Amtszeit zu planen. Was seine Botschaft an die Demokraten sei, wurde er am Freitag gefragt. Seine Antwort: «Win.» Gewinnen. Ein bisschen wäre es auch sein Sieg.
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