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Erster grosser Auftritt des Vize
Tim Walz, eine Rede wie eine Kabinenansprache

PHILADELPHIA, PENNSYLVANIA - AUGUST 6: Democratic presidential candidate, U.S. Vice President Kamala Harris and Democratic vice presidential nominee Minnesota Gov. Tim Walz walk out on stage together during a campaign event on August 6, 2024 in Philadelphia, Pennsylvania. Harris ended weeks of speculation about who her running mate would be, selecting the 60 year old midwestern governor over other candidates. (Photo by Andrew Harnik/Getty Images)
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Dienstagabend, Philadelphia, im Liacouras Center, einer Mehrzweckhalle in Philadelphia, sitzen mehr als 10’000 Menschen und warten auf den Auftritt von US-Vizepräsidentin Kamala Harris, die zugleich die amerikanische Präsidentschaftskandidatin der Demokraten ist. Ebenfalls erwartet wird Tim Walz, der Gouverneur von Minnesota, den Harris wenige Stunden zuvor zu ihrem Running Mate erklärt hatte, zu ihrem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft. Die Standardphrase bei solchen Gelegenheiten ist, dass die Halle «brodele». Aber hier brodelt nichts oder kocht oder wird sonst irgendwie zu heiss. Diese Halle ist fröhlich.

Sie ist heiter, sie ist erfüllt von einem lauten Optimismus, wie er in der amerikanischen Politik zumindest auf demokratischer Seite seit den ersten grossen Reden von Barack Obama im Jahr 2008 nicht mehr zu spüren war. Hier herrscht Ausgelassenheit, hier herrscht Frohsinn – man kann das sehen auf den TV-Bildern. Dabei sind Harris und Walz noch gar nicht aufgetreten.

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Eine Gruppe von Trommlern zieht durch die Halle. Es treten einige lokale Politiker und Aktivisten auf die Bühne, das sind die Menschen, die die Arbeit an der Basis machen. Das Auditorium applaudiert ihnen, wie man auf einem Konzert der Rolling Stones oder von Olivia Rodrigo der örtlichen Vorband applaudieren würde: freundlich, voller Vorfreude auf die Stars des Abends. In diesem Fall: Kamala Harris und Tim Walz.

Moment. Ganz kurz bitte. Kamala Harris und Tim wer? Die unbeliebteste Vizepräsidentin aller Zeiten und ein Nobody aus Minnedingsbums? Was ist denn da passiert? Es fallen an diesem Abend viele wichtige, viele programmatische Sätze. Kamala Harris wird die beste Rede ihrer politischen Laufbahn halten, weil sie jetzt wirklich daran glaubt, dass sie Präsidentin werden kann. Aber der beste und wahrste Moment gehört Tim Walz aus Minnesota. An Harris gewandt sagt er: «Thank you for bringing back the joy.» Danke dir, dass du die Freude zurückgebracht hast.

Die Wirkung, die dieser Satz vor den 10’000 Menschen im Liacouras Center in Philadelphia entfaltet, lässt sich kaum beschreiben. Die Halle explodiert.

Harris scheint zufrieden zu sein mit ihrer Wahl

Es heisst nicht ganz zu Unrecht, der erste Eindruck sei entscheidend. Und im Fall von Tim Walz gilt das allemal. Über zwei Drittel der Amerikaner haben bislang keine Meinung zu ihm, weil sie ihn schlichtweg nicht kennen. Noch nicht, muss man wohl sagen. Denn der erste Eindruck, den Walz in Philadelphia hinterliess, wäre mit dem Wort «vielversprechend» sehr vorsichtig beschrieben. Da stand ein Mann auf der Bühne, der auf ganz andere Weise begeisterte als seine Vorrednerin und Chefin. Harris klang tatsächlich schon ein bisschen wie die erste Präsidentin im Weissen Haus, Walz klang eher wie der Nachbar von nebenan. Diese Typen seien «creepy and weird as hell» sagte er über Trump und seine Leute, gruselig und irre seltsam. Das geneigte Publikum liebt diese Art der Ansprache, das hatten schon die zurückliegenden Tage gezeigt.

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Harris stand einen halben Schritt hinter Tim Walz mit einem Gesichtsausdruck, dem man entnehmen konnte, dass sie mit ihrer Personalentscheidung zufrieden war.

Was Kamala Harris gerade hinter sich hat, war wahrscheinlich die schnellste Auswahl eines Running Mate in der jüngeren Geschichte – und gleichzeitig fühlte es sich an wie einer der langwierigsten Auswahlprozesse, weil am Ende das halbe Land die Minuten bis zum Anruf der Vizepräsidentin bei ihrem Vizepräsidentschaftskandidaten mitzuzählen schien.

Schliesslich hat sich Harris wohl auch für den Mann entschieden, mit dem sie sich in den Sonntagsgesprächen am besten verstanden hat. Und das war offenbar der bislang so unscheinbare Tim Walz. «Unterschätze niemals die Lehrer», sagte der am Dienstagabend auf der Bühne von Philadelphia.

epa11532161 Democratic presidential candidate US Vice President Kamala Harris (R) holds a campaign rally with her new running mate Democratic vice presidential candidate Minnesota Governor Tim Walz (L) at the Liacouras Center at Temple University in Philadelphia, Pennsylvania, USA, 06 August 2024. Earlier, Harris announced Walz as her running mate for the 2024 presidential election and this is their first campaign event together. EPA/DAVID MUSE

Bevor Walz 2006 in die Politik ging, unterrichtete er an einer öffentlichen Schule die Fächer Sozialkunde und Erdkunde. Der gutmütige Pädagoge in ihm scheint immer noch durch. Walz stellte sich der Öffentlichkeit aber vor allem als ein fröhlicher Kämpfer und als ein nahbarer Patriot vor. Er sagte, er habe 24 Jahre lang «stolz die Uniform dieses Landes getragen», als Mitglied der Nationalgarde stieg er bis in den Rang des Command Sergeant Major auf. Er sprach aber auch gleich bei seinem ersten grossen Auftritt darüber, dass er und seine Frau Gwen jahrelang vergeblich versucht hatten, Kinder zu kriegen; dass es schliesslich mit vielen Gebeten und künstlicher Befruchtung gelang.

Seine inzwischen erwachsene Tochter heisst deshalb Hope. Wie die Hoffnung. Das mag ein privates Detail sein, aber in einem Land, in dem Abtreibung und Geburtenkontrolle zum Gegenstand des Kulturkampfes geworden sind und damit zu einem zentralen Wahlkampfthema, ist es kein unerhebliches Detail: Der Running Mate von Harris glaubt offenbar nicht daran, dass die Fragen der Fortpflanzung allein in Gottes Hand liegen.

«Coach Walz» liefert bei seiner Rede

Tim Walz (60) wurde in Butte sozialisiert, einem Örtchen mit ein paar Hundert Einwohnern im Bundesstaat Nebraska, der zwar nicht ganz an Minnesota grenzt, aber an seiner nordöstlichen Ecke immerhin fast. Zu den verlässlichsten Running Gags des neuen Vizepräsidentschaftskandidaten gehört, dass es in seiner Abschlussklasse auf der Highschool 24 Schüler gab und «12 davon waren Cousins». Mit solchen kleinen Gags aus dem kleinstädtischen Amerika können sich viele identifizieren, egal ob sie politisch links oder rechts stehen.

Aber es gibt wahrscheinlich wenig, auf das sich in diesem zerrissenen Land mehr Leute einigen können als auf eine gute Sportgeschichte. Und auch die hat Walz zu erzählen. Er trainierte ja nicht nur das Footballteam der Mankato West Highschool, sondern holte mit dieser notorisch sieglosen Mannschaft auch die erste Meisterschaft auf Bundesstaatsebene. Als Harris ihren Vize in Philadelphia vorstellte, nannte sie ihn nicht etwa ein- oder zweimal, sondern eher sieben- bis achtmal «Coach Walz». Und der lieferte in dieser Rolle eine Rede ab, die streckenweise wie eine Kabinenpredigt bei knappem Halbzeitrückstand klang. Freitagabend, Flutlicht, Ärmel hoch, und dann holen wir uns das Ding! «Schlafen können wir wieder, wenn wir hiermit fertig sind», rief Walz dem Publikum zu.

Democratic presidential nominee Vice President Kamala Harris and her running mate Minnesota Gov. Tim Walz speak at a campaign rally in Philadelphia, Tuesday, Aug. 6, 2024. (AP Photo/Matt Rourke)

Seine Frau Gwen lernte Walz bei der Arbeit kennen, sie ist Highschool-Lehrerin. Gwen Walz sagte der Zeitung «Star Tribune» aus Minneapolis einmal, sie habe sich beim Unterricht im Klassenzimmer nebenan immer von dem lauten Organ ihres späteren Ehemannes gestört gefühlt. Ende der Achtzigerjahre unterrichtete Tim Walz dann ein Jahr lang Englisch an einer Schule in China. Angeblich kann er sich bis heute ein wenig auf Mandarin unterhalten.

Ein Linksradikaler? Nö, ein Waffenbesitzer!

Was man sonst noch so über ihn weiss? Er sass für einen strukturkonservativen und landwirtschaftlich geprägten Teil Minnesotas im US-Kongress, er war erst der zweite Demokrat seit 1890, der diesen Wahlkreis gewann. Er sammelt patriotische Münzen. Er fährt in seinem Dienstwagen als Gouverneur in der Regel vorne auf dem Beifahrersitz, weil ihm hinten schwindlig wird. Er trinkt weder Kaffee noch Alkohol, sondern am liebsten Diet Mountain Dew, einen Softdrink, der auch schon zum Gegenstand dieses Wahlkampfes wurde. Der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat J. D. Vance warf den Demokraten neulich vor, nahezu alles als «rassistisch» zu labeln, was normale Amerikaner eben gerne so täten. Und als Beispiel nannte er: «Ich habe gestern eine Diet Mountain Dew getrunken und heute wieder. Ich bin mir sicher, dass sie das auch rassistisch nennen werden.» Nö, tun sie bestimmt nicht, denn Tim Walz trinkt das ja selbst den ganzen Tag.

Die Republikaner werden nun versuchen, Tim Walz als Linksradikalen darzustellen, was zwar nicht den Tatsachen entspricht, aber wann hätte sich Trump jemals davon abhalten lassen, etwas zu behaupten, nur weil es gelogen wäre? Dennoch war auffällig, wie engagiert die Harris-Kampagne sogleich versuchte, beim Linksradikalismus gegenzuhalten. Gleich in der ersten Pressemitteilung zu ihrem Running Mate wurde explizit betont, dass Walz eine Schusswaffe zu Hause habe, gerne Fasanen jage und das Second Amendment unterstütze, also das in der Verfassung festgeschriebene Recht auf Waffenbesitz. «Wie Millionen von Waffenbesitzern glaubt er, dass der Kongress mehr unternehmen müsse, um der Waffengewalt in unseren Gemeinden zu begegnen», stand da noch. Und so ähnlich sagte Walz das dann auch abends in der Halle wieder.

Der kleine Seitenhieb auf Trump

Walz hinterliess an diesem Abend viele bemerkenswerte Sätze, doch zwei stachen heraus. Im ersten ging es darum, dass er mit der anderen Seite zusammenarbeiten könne, dass er also in Zeiten der maximalen Spaltung ein Vermittler sein wolle. «Ich habe die Kunst des Kompromisses gelernt», sagte er, «des Kompromisses, ohne meine Werte zu verraten.» Sein zweiter grosser Satz war dann weniger versöhnlich, er war eine Attacke. «Während der Präsidentschaft von Donald Trump ist die Zahl der Gewaltverbrechen im Land gestiegen», sagte er, und dann wartete er eine Weile, um Luft für seine Pointe zu lassen: «Da habe ich die Verbrechen, die er begangen hat, noch nicht einmal einberechnet.» Dem Applaus zufolge könnte das sein Tophit werden für die anstehende Tour durch die sieben Swing-States von Michigan über North Carolina, Georgia, Wisconsin und Arizona bis nach Nevada. Wenn es so weitergeht, werden Harris und Walz gemeinsam überall die Mehrzweckhallen füllen: eine eben noch unbeliebte Vizepräsidentin und ein bislang weitgehend unbekannter Gouverneur.