US-Journalist Evan GershkovichPutin lässt seine Geisel zum Jahrestag vorführen
Seit einem Jahr ist der 32-jährige US-amerikanische Reporter Evan Gershkovich in russischer Haft. Nicht einmal Anklage wurde bisher gegen ihn erhoben.
Als hätten Zweifel daran bestanden, dass Evan Gershkovich so lange eingesperrt bleibt, wie es dem Kreml beliebt, hat ein russisches Gericht am Dienstag seine Untersuchungshaft um drei Monate verlängert. Zum Jahrestag der Festnahme des 32-jährigen Amerikaners am Karfreitag mutet das wie ein besonders zynischer Zug an. Maskierte Agenten des Geheimdiensts FSB hatten den Moskau-Korrespondenten des «Wall Street Journal» am 29. März 2023 in einem Steak-Restaurant in Jekaterinburg festgenommen.
Wladimir Putin persönlich hat vor kurzem durchblicken lassen, in welch klebriges Netz er den Amerikaner gewickelt hat. Es ist dasselbe, in dem Paul Whelan zappelt, ein amerikanischer Geschäftsmann, der seit 2018 in russischer Haft sitzt. Ein Strang reichte bis zum Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, der Mitte Februar unter Putins Schergen zu Tode kam.
Untersuchungshaft schon fünfmal verlängert
Spionage wirft Russland Gershkovich vor, obwohl ihn das russische Aussenministerium als Journalist akkreditiert hatte und er in Jekaterinburg seiner Arbeit nachging. Seither wird er im berüchtigten Moskauer Gefängnis Lefortowo festgehalten, die Haft wurde fünfmal verlängert, ein Datum für einen Prozessbeginn gibt es noch immer nicht. UNO-Experten riefen zum Jahrestag in Erinnerung, eine solch lange Untersuchungshaft sei Anlass für «ernsthafte Bedenken über die Unschuldsvermutung und die Fairness eines Rechtsverfahrens». Gershkovich weist die Vorwürfe zurück, auch das Aussenministerium in Washington sagt, er werde «zu Unrecht festgehalten», und versucht, seine Freilassung zu erwirken.
Mit Gershkovichs Festnahme erreichte der Diktator im Kreml zwei Ziele auf einmal. Er schüchterte damit unliebsame Medienschaffende ein; mehreren Korrespondenten wurden seit dem Überfall auf die Ukraine Visa verweigert. 22 Journalisten sitzen gemäss der jüngsten Erhebung des «Committee to Protect Journalists» in russischen Gefängnissen, neben Gershkovich zahlreiche Russen, mehrere Ukrainer sowie die russisch-amerikanische Doppelbürgerin Alsu Kurmasheva, der die USA bisher den Status einer «zu Unrecht Festgehaltenen» nicht gewährt haben.
Zynische Tauschgeschäfte
Mit den Amerikanern schnappte sich Putin gleichzeitig Geiseln für zynische Tauschgeschäfte. Schon die US-amerikanische Basketballerin Brittney Griner liess er 2022 einsperren, um Viktor Bout freizupressen, einen in den USA verurteilten Waffenschieber. Die Amerikaner hatten gehofft, bei dem Tausch auch Paul Whelan freizubekommen. Putin liess sie auflaufen. Seither muss sich US-Präsident Joe Biden vorwerfen lassen, er habe die Freiheit der lesbischen Afroamerikanerin Griner höher gewichtet als jene des früheren Marinesoldaten Whelan, eines Weissen. Nun sitzen in den USA keine Häftlinge mehr, an denen der Kreml Interesse bekundet.
Jüngst weckte Putin Hoffnung, er könnte sich auf ein anderes Tauschgeschäft einlassen, nur um sie sogleich wieder brutal zu ersticken. Im Interview mit Tucker Carlson, dem früheren Kommentator des US-Senders Fox, deutete er Anfang Februar eine mögliche «Einigung» an: Deutschland solle den Auftragskiller Wadim Krasikow freilassen, den «Tiergartenmörder», der in Berlin den Georgier Selimchan Changoschwili erschossen hatte.
Kurz nach dem Tête-à-Tête war Navalny tot
Kurz nach Putins Tête-à-Tête mit Carlson unterhielten sich der deutsche Kanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden im Oval Office darüber, wie das «Wall Street Journal» berichtet. Sie beschlossen, einen Tausch vorzuschlagen, bei dem Russland auch den Regimekritiker Alexei Nawalny freilassen sollte. Der Kreml erfuhr davon, eine Woche später war Nawalny tot.
Evan Gershkovich wartet weiter. Seine Eltern, aus der Sowjetunion in die USA ausgewandert, erhalten nur spärliche Nachrichten von ihrem Sohn. Täglich darf er demnach für eine Stunde an die frische Luft, er halte sich fit, heisst es, er rede mit seinem Zellennachbarn, er meditiere. Er liess sich russische Literatur schicken, Freunde schreiben ihm Briefe.
Zum Jahrestag der Festnahme veröffentlichte das «Wall Street Journal» eine Titelseite samt grosser leerer Fläche, wo sonst Text erscheint. «Seine Geschichte sollte hier stehen», hiess es dazu in grossen Lettern. Seine Kolleginnen und Kollegen trugen 24 Stunden lang Artikel von Gershkovich vor, live übertragen auf Youtube. Almar Latour, der Chef der Dow-Jones-Gruppe, zu der das «Wall Street Journal» gehört, las: «Es ist hart, sich so hilflos zu fühlen, dass man nichts tun kann.» Es war das Zitat einer Frau, die sich über die Zustände unter Putin beklagte. Es hätte auch direkt aus Gershkovichs Zelle im Lefortowo-Gefängnis kommen können.
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