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Autor Wiktor Jerofejew zu Nawalnys Tod
Dem Russland der Zukunft wird er schmerzlich fehlen

Flowers and a photo of Russian opposition leader Alexei Navalny are placed near the Russian consulate in Frankfurt, Germany, Saturday, Feb. 17, 2024. Navalny, who crusaded against official corruption and staged massive anti-Kremlin protests as President Vladimir Putin's fiercest foe, died Friday in the Arctic penal colony where he was serving a 19-year sentence, Russia's prison agency said. He was 47. (AP Photo/Michael Probst)
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Alexei Nawalnys Tod hat ihn augenblicklich in eine mächtige historische Figur verwandelt, zu deren Ehren man mit der Zeit Strassen, Prospekte, Universitäten, vielleicht sogar Städte benennen wird. So eine sprühende, energische Persönlichkeit, die dem ganzen System staatlicher Macht praktisch allein Paroli bietet – denn seine Mitstreiter waren stets eher Mitarbeiter als Kollegen –, kann man in den Weiten Russlands lange suchen.

Natürlich gab es in jüngerer Vergangenheit ähnliche Figuren, etwa das Akademiemitglied Andrei Sacharow oder Boris Nemzow – sie sind an Bedeutung vergleichbar mit Nawalny. Aber Nawalny ist geradezu filmreif mit seinen überraschenden, brillanten existenziellen Aktionen.

Ein schöner junger Mann, Ehemann einer der gemeinsamen Sache treu ergebenen schönen Frau, Vater zweier schöner Kinder, wirkt er anziehend mit seinen Zweifeln und seinen originellen Einfällen, seiner Strenge und seinem Sinn für Humor, der sich in ansteckendem Lachen äussern kann. Er fürchtet keine Skandale und gegen ihn gerichtete Provokationen – er fürchtet überhaupt nichts, denn er weiss, die russische Staatsmacht ist Betrug und Korruption; er fürchtet nicht, was er nicht respektiert. Dabei berücksichtigt er den Geschmack des Volkes, dessen Schwächen und Komplexe. Er tauchte ein in unterschiedliche politische Gewässer – in der Jugend war er ein «Jablotschnik», Mitglied der liberalen Partei Jawlinskis Jabloko. Er versuchte sich in der Rhetorik der nationalistischen «Russischen Märsche», nahm dann Abstand vom Nationalismus, war aber relativ diplomatisch in der Frage der Rückgabe der annektierten Krim an die Ukraine.

Nawalny hasste Putin gezielt – für Betrug und die Gier nach Macht

Einmal sagte er etwas ungeschickt, die Krim sei doch kein Wurstbrot, das man sich gegenseitig aus der Hand reissen müsse. Wegen solcher politischer Unschärfen mochte Jawlinski ihn bis zum Ende seines Lebens nicht. Meine Kollegin, die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, sagte, sie würde Havel (so einen haben wir in Russland nicht) ihm vorziehen. Doch in Bezug auf die Staatsmacht war er verblüffend mutig. Seine entlarvenden Antikorruptionsdokus über Putins himmelschreiend geschmacklosen Palast im Kaukasus oder die Reichtümer Dmitri Medwedjews haben Millionen und Abermillionen Menschen gesehen – es war klar, dass er damit Kopf und Kragen riskierte.

Dennoch blieb er ziemlich lange ein prominenter und erfolgreicher Politiker. Er vereinte in sich den Pragmatiker und den Träumer. Er verstand, dass der Russe mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft lebt. Nawalny setzte die Losung vom schönen Russland der Zukunft in die Welt. Gleichzeitig baute er meisterlich ein russlandweites Netz mit Namen «Fonds zur Bekämpfung von Korruption» (FBK) auf. Bei den Moskauer Oberbürgermeisterwahlen 2013 erhielt er mehr als 27 Prozent der Wählerstimmen. Ein unerhörter Erfolg für einen radikalen Oppositionellen. Zwischen Putin und ihm entwickelte sich eine gegenseitige Hassbeziehung, doch dieser Hass hatte bei jedem der beiden eine eigene Qualität. Putin hasste Nawalny als Beleidiger, der ihn vor aller Augen für seinen despotischen Regierungsstil verhöhnte. Nawalny hasste Putin gezielt – für konkrete Sünden: Betrug, leere Versprechungen, Gier nach Macht.

Ich war persönlich mit Alexei bekannt, wir hatten beide beim liberalen Radiosender Echo Moskau zu tun. Er hatte eine eigene Sendung, und ich war oft Gast beim Sender. Ich sagte ihm, seinem politischen Programm fehle es an philosophischer Unterfütterung. Denn die Illusion bezüglich eines schönen Russlands der Zukunft basiere ausschliesslich auf der Voraussetzung, dass das Land vom Putin-Regime besetzt sei, die Mehrheit aber nur davon träume, dieses zu stürzen.

Nawalny hatte viele Anhänger, aber für eine Revolution waren es eindeutig nicht genug. Die unendliche Langmut des Volkes, Konformismus, Scheissegalismus, den omnipräsenten Persönlichkeitsverfall im kriminellen Milieu, unter den Alkoholikern, den Obdachlosen, den Millionen prosowjetischer Staatsdiener und Rentner hielt Nawalny für ein überwindbares Übel. Doch gerade auf solche Stimmungen stützte sich Putin und verwandelte sich im Lauf der Jahre in einen Präsidenten des Volkes.

Nawalny indessen fürchtete Putin nicht einmal dann, als die Staatsmacht ihm jahrelange Gefängnishaft in Aussicht stellte; man beschuldigte ihn zunächst angeblicher geschäftlicher Manipulationen. 2014 begann sein Leidensweg durch die Gerichte. Aber Nawalny liess sich auch davon nicht schrecken, und schliesslich vergiftete man ihn mit Nowitschok – ein weiteres russisches Wort, das nun international als Bezeichnung für tödliches Gift steht.

Nawalny wurde zuerst von russischen Ärzten in Sibirien gerettet, dann stellten ihn deutsche Ärzte der Berliner Charité wieder auf die Beine. Selbstredend leugnete die Staatsmacht die Urheberschaft der Vergiftung, aber Nawalny brachte es fertig, sich als Assistent eines engen Mitstreiters von Putin auszugeben und als solcher einen der an der Vergiftung Beteiligten anzurufen. Der glücklose Killer verriet sich und war ertappt. Nichtsdestoweniger leugnet die Staatsmacht bis heute, etwas mit dem Giftanschlag zu tun zu haben.

Ahnte Nawalny, dass ihn die Rückkehr in den Tod treibt?

Das weitere Verhalten Nawalnys ist Gegenstand vieler Diskussionen. Gemeint ist seine Rückkehr nach Moskau nach seiner Genesung. Am 17. Januar 2021 wurde er noch vor dem Passieren der Passkontrolle auf einem Moskauer Flughafen verhaftet. Danach verbrachte er bis zu seinem Tod keinen einzigen Tag mehr in Freiheit. Seine Haftbedingungen wurden zunehmend schlimmer, die Dauer der Haftstrafe wurde wegen staatsfeindlicher Verbrechen (Organisation einer «extremistischen Vereinigung») immer länger und wuchs bis zu 19 Jahren Gefängnis an.

Schliesslich schickte man ihn hinter den Polarkreis, in das berüchtigte Straflager «Polarwolf» mit besonders strengem Regime, wo man ihn viele Male wegen kleinster Vergehen (wie einem offenen Knopf an der Anstaltskleidung) in eine kalte Einzelzelle sperrte. Nahezu unvorstellbar, unter solchen Bedingungen zu überleben. Wer konkret diese Folter befehligte und sich an Alexeis Qualen ergötzte, darf man raten. Dissidenten und Staatschefs in aller Welt geben jedenfalls eindeutig Putin die Schuld für Nawalnys Tod.

Ahnte Nawalny, dass ihn seine Rückkehr aus Berlin nach Moskau in die Arme des Todes treibt? Offensichtlich fürchtete er auch den Tod nicht mehr, er verstand, dass er nur frei von Todesangst gegen Putin kämpfen, selbst vom Gefängnis aus die Wahlkampagne des Präsidenten stören (der tritt im März für eine neue sechsjährige Amtszeit an) und Putins Aggression in der Ukraine entlarven kann.

Putin unterschätzte Nawalny

Aber nach den Gesetzen von Putins Regentschaft erhalten jene Opponenten mit genügend Fantasie, die im Ausland bleiben, meist von der Staatsmacht das Recht auf Leben. Warum? Ganz einfach, die russische politische Emigration bricht ihnen nach und nach die Flügel: Es gibt keinen direkten Kontakt mehr zum Volk, zu Russland, zu Mitstreitern. Vom Standpunkt des Politikers hatte Nawalny einfach keine andere Wahl, als zurückzukehren. Aber allem Anschein nach hat er Putin unterschätzt.

Selbst nach der Genesung vom Nowitschok hatte er noch die Illusion, dass man es nicht wagen würde, ihn ein zweites Mal zu vernichten, dass er sich mit seiner Auferstehung von den Toten eine gewisse Sicherheit erkämpft hätte. Allerdings hatte da der grosse Krieg gegen die Ukraine noch nicht begonnen, der klarmachte, zu welchen militärischen Grosstaten der russische Zar imstande ist.

Aber auch Putin unterschätzte Nawalny. Denn der kapitulierte nicht einmal im grausamen Gefängnis. Er setzte seinen Kampf gegen die Staatsmacht fort, fand immer wieder geheime Mittel und Wege, seine Gedanken aus dem arktischen Folterknast zu kommunizieren. Doch er befand sich eben vollständig in den Händen des Kremls, der sich nach Nawalnys Tod beeilte, durch den Mund eines gewissen Senators aus dem Föderationsrat von einem «Unglück» zu sprechen.

Bestimmt würde Nawalny selbst das derzeitige russische Machtsystem als «Unglück» bezeichnen, welches ihn im heutigen Abschnitt der Geschichte besiegt hat. Und weiter dann – obwohl, wann wird dieses weiter sein? – wird die russische Geschichte Nawalny ihr Gesicht zuwenden und ihn in ihre Arme schliessen. Alles wird gut.

Doch, um ehrlich zu sein, Nawalny war noch ein vergleichsweise junger Politiker, er ist mit nur 47 Jahren gestorben. In der Emigration hätte er Putin (71) überlebt und mit Sicherheit seine Rolle im Post-Putin-Abschnitt der Geschichte übernommen. Dem Russland der Zukunft wird er schmerzlich fehlen.

Aus dem Russischen von Beate Rausch