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Roman aus Russland
Putins Aufstieg vom Hinterhofschläger zum neuen Stalin

A portrait of Russian President Vladimir Putin lies on the ground near the local prison in Kherson, Ukraine, Wednesday, Nov. 16, 2022. The Russian retreat from Kherson marked a triumphant milestone in Ukraine's pushback against Moscow's invasion almost nine months ago. (AP Photo/Efrem Lukatsky)
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Was für ein Buch! Man kommt nicht zurande mit ihm. Der Autor selbst hat es ja nicht auf die Reihe gekriegt. Was will er eigentlich erzählen?

Der Titel «Der Grosse Gopnik» verspricht uns: eine besondere Aufstiegsgeschichte Wladimir Putins. Denn Gopnik, das ist ein Schlägertyp aus dem Hinterhof, der sich mit Aggressivität und Skrupellosigkeit durchsetzt.

Putin, ein Hinterhofschläger? Reicht das als Erklärung für Aufstieg und Allmacht des russischen Kriegspräsidenten? Nicht wirklich. Auch die «psychologische Deutung» Donald Trumps als «Bully», als Schulhofrüpel, trug ja nicht viel dazu bei, zu verstehen, warum halb Amerika diesen Typen als Präsidenten gewollt und gewählt hat.

Bewachte Putin den Friedhof seiner Komplexe?

Also, Putin ist ein Gopnik, gut – er geistert durch das Buch, ohne uns als Person, als Figur, als Herrscher verständlicher zu werden. Einmal ist der Autor ihm leibhaftig begegnet, 2005 in Paris. «Er sah aus wie sein eigener Leibwächter. Ich glaube, er bewachte den brodelnden Friedhof seiner Komplexe», erinnert sich Jerofejew.

Originell beobachtet und formuliert. Aber da gibt es noch so viel anderes, das er erzählen muss. Vor allem von sich selbst oder, um korrekt zu bleiben, von seinem Icherzähler Viktor Jerofejew, der mit dem Autor, bis auf ein paar fantastische Übertreibungen, weitgehend identisch ist.

Beider Vater war Französisch-Dolmetscher bei Stalin, später Kulturattaché in Paris, wo auch der Sohn Jahre seiner Kindheit verbrachte und wohl unheilbar vom westlichen Wohlleben infiziert wurde.

An Frauen fehlt es nicht im Roman

Sein pralles und wildes Leben lässt Viktor genüsslich Revue passieren. Der aufsehenerregende Untergrund-Almanach «Metropol» 1979, der zu seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband führte (Gorbatschow persönlich sorgte später für seine Wiederaufnahme).

Der Skandalerfolg des Prostituiertenromans «Die Moskauer Schönheit», der ihn in den Perestroika-Jahren zur literarischen Sensation machte, er wurde weltweit herumgereicht, traf Stars und Staatsmänner von Ronald Reagan bis zu Susan Sontag (die er beim Rendez-vous 20 Minuten warten liess – er sie, nicht sie ihn!).

Schon der 16-Jährige plaudert auf der Familiendatscha mit «Onkel Sascha» – das ist Stalins Aussenminister Molotow auf dem Altenteil, gemeinsam hört man die «Stimme Amerikas» auf Viktors Transistorradio. In Dakar, wo sein Vater die sowjetische Delegation leitet, verliebt er sich in die Tochter des südvietnamesischen Botschafters – was aus politischen Gründen gar nicht geht und auch unterbunden wird.

Ja, die Frauen – an denen fehlt es nicht im Leben und im Roman. Stolz zählt Viktor «dreieinhalb Ehefrauen» und eine «Anti-Ehefrau» auf, dazu etliche Geliebte, echte und fantasierte, wie die ganz und gar erfundene Schwester O., mit der er gar ein Kind zeugt. Sexszenen zuhauf, meist unter der Geschmacksgürtellinie. Takt und Diskretion sind seine Sache nicht, nicht vereinbar mit dem Selbstbild des tollen Hechts.

Das Buch ist voll von Fingerzeigen und Augenzwinkern

Als er auf einer Party in den USA Tatjana Jakowlewa kennen lernt, in den 1920er-Jahren die Geliebte der Dichterlegende Wladimir Majakowski, will er von der über 80-Jährigen vor allem wissen, wie Majakowski im Bett war.

Für die fiktive Schwester O. lässt sich Viktor von der Macht korrumpieren: O. ist eine Konzeptkünstlerin, radikaler als ihr Bruder; für ihre provokative Ausstellung «Porno-Land» droht ihr nun Gefängnis.

Viktor soll sie retten – er ist schliesslich prominent und hat Beziehungen bis in den Kreml. Tatsächlich bekommt er einen Termin bei Stawrogin, dem allmächtigen Ratgeber des «Grossen Gopnik», und die Zusage, die Schwester zu verschonen – wenn Viktor Stawrogins Gedichtband lobend rezensiere. Was er auch tut – so schlecht seien die Verse schliesslich ja auch nicht …

Moment – Stawrogin: Ist das nicht die dunkel-faszinierende Figur aus Dostojewskis «Dämonen»? Genau. Von solchen Anspielungen, Fingerzeigen und solchem Augenzwinkern ist das Buch voll. Breite Kenntnisse der russischen Kulturgeschichte, aber auch der Gegenwartsszenerie werden vorausgesetzt, und kein Glossar oder Anhang hilft dem bloss zeitungsgebildeten Leser weiter.

Putin wird nie beim Namen genannt

Also: Was will Jerofejew mit diesem Buch? Mit diesem monströsen Werk, zusammengestückelt, heterogen, von Kapitel zu Kapitel (181 sind es insgesamt), von Thema zu Thema, von Ton zu Ton springend, von einem Abendessen mit Philip Roth («Wir sprachen über den Tod») zu einem Wettsaufen in Georgien (das Viktor natürlich gewinnt, nach dem 37. Glas winkt ihm als Belohnung die schöne Reiseführerin Keti). Und immer wieder beim Grossen Gopnik landend und dem ihm heillos verfallenen Russland.

Denn das Problem ist nicht Putin, um den Klarnamen, der im Buch kein einziges Mal fällt, zu nennen. Das Problem, sagt Jerofejew, ist Russland. Putin ist nichts anderes als ein Wiedergänger Stalins – in einer der surrealistischen Szenen des Buches presst Stalin ihn regelrecht aus sich heraus. Als nächtlicher Besucher flüstert ihm Stalin die nächsten Schritte ein: «Hol die Balten zurück! Und Polen auch, dieses Stinkloch!»

Hinter Stalin steht Iwan der Schreckliche

Stalins Aufstieg ist übrigens genauso unwahrscheinlich wie der des Hinterhofschlägers: «Ein kleiner mickriger georgischer Seminarist aus der Familie von einem versoffenen Schuster oder weiss der Kuckuck von wem, ein Strassenräuber und Lakai Lenins wird der Russische Gott, der mal eben Millionen Menschen vernichtet.»

Und hinter Stalin steht Iwan der Schreckliche, stehen all die Selbst- und Gewaltherrscher, die Russland hatte und die, so Jerofejew, Russland will, Russland braucht.

Josef Stalin, dictator of Soviet Russia, points as he delivers a speech in Moscow in April 1935. He is speaking at the session of the commission for studying the project of the model constitution for agricultural artels during the second all-union congress of collective farm shocj workers. (AP Photo)

Die Russen brauchen und wollen die Knute, so sein kursorisches, völkerpsychologisch heikles Urteil über seine Landsleute. «Der Russe ist glücklich, wenn er zerstört», lesen wir, und «Die russische Seele verlangt nach dem Gefängnis». Russische Werte, das sind «Kult der Stärke, Empathielosigkeit, Gerissenheit, Argwohn, Misstrauen, Zynismus, alles, was dem Überleben nützt». Das Gegenbild – Sanftheit, Fürsorge, Selbstlosigkeit –, verkörpert durch seine Tante Lidija (und manche Frauengestalten Dostojewskis), spielt heute keine Rolle mehr.

Und das Buch? Das hat der Angriff tödlich getroffen

Ein Urteil aus Verzweiflung – wie das ganze Buch ein Schrei der Verzweiflung ist, ausgelöst durch den 24. Februar. Dieses Datum steht programmatisch über kurzen, kursiv gedruckten Kapiteln, die tagebuchartig das Buch durchziehen und dokumentieren, dass der Angriff auf die Ukraine ein Angriff auch auf den Autor und seine Vorstellung eines anderen Russland ist. «Ich habe in der Ukraine unsere elementare Chance für eine Zukunft gesehen. Wenn es bei ihnen gelingt, dann irgendwann auch bei uns.»

Diese Hoffnung ist mit dem 24. Februar dahin. Und für Jerofejew und seine Familie ist es Zeit, Russland zu verlassen: Über St. Petersburg, Finnland, das Baltikum und Polen reisen er, seine Frau und seine beiden Töchter nach Deutschland, heute leben sie in Berlin im Exil.

Und das Buch? Auch das hat der Angriff tödlich getroffen. «Das Buch ist krank vom Krieg. Dies ist ein krankes Buch.» Und doch ist es da.

Und man versteht mit der Zeit, mit der Lektüre manches besser. Sogar das streckenweise schwer erträgliche Machotum, das der Autor für seinen Icherzähler inszeniert, das Namedropping, die penetranten Erfolgsstorys – dient das nicht dazu, mit dem Grossen Gopnik zu rivalisieren, es ihm zu zeigen, sieh her, ich bin auch ein Siegertyp? Und ist das nun bewusst oder unbewusst? Und setzt es den Erzähler-Helden nicht eher herab?

Was für ein Buch. Man kommt damit nicht zurande.

Viktor Jerofejew: Der Grosse Gopnik. Roman. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 614 S., ca. 40 Fr.