Politisches Sachbuch«Das Gegenbild des feminisierten, ergo schwachen westlichen Mannes»
Sabine Fischer deutet Wladimir Putins Politik als chauvinistische Herrschaft. Und sie erklärt, wie Europa einen weiteren patriarchalen Gewaltzyklus vermeiden könnte.
Es gehört Mut dazu, in dieser Zeit ein weiteres Buch über Russland zu veröffentlichen. Seit Wladimir Putin die vollumfängliche Invasion der Ukraine befohlen hat, sind Dutzende Werke erschienen – und schon vor dem 24. Februar 2022 hatten sich viele Autoren und Expertinnen mit dem früheren KGB-Agenten beschäftigt, der faktisch seit dem Jahr 2000 an der Spitze der Atommacht steht.
Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik gelingt es dennoch, ein weiteres lesenswertes Buch vorzulegen. Sie findet nämlich eine klare Perspektive für «Die chauvinistische Bedrohung». Fischer definiert Chauvinismus als «übersteigertes Überlegenheitsgefühl einer Gruppe, verbunden mit Verachtung, Feindseligkeit und aggressivem Dominanzverhalten gegenüber Personen ausserhalb dieser Gruppe».
Dieser Begriff hilft ihr, die Hintergründe für Russlands Vernichtungskrieg zu analysieren: Nationalismus, Sexismus und Autokratie. Auf diesen Bausteinen basiere das Regime von Putin, um den ein «extremer Männlichkeitskult» aufgebaut worden sei.
In Russland ist Gewalt stets ein legitimes Mittel
Für Fischer ist Gewalt in Russland allgegenwärtig. Laut der Frauenrechtlerin Aljona Popowa verhält sich die Staatsmacht «wie ein Schläger in der Familie». Die Täter werden geschützt, die Opfer verhöhnt. Dass die Opfer von häuslicher Gewalt in Russland durch kein Gesetz geschützt seien, sei kein Zufall: Dies würde zeigen, dass Gewalt kein legitimes Mittel ist.
Als Feministin ist Fischer nicht nur davon überzeugt, dass das Private politisch ist. Es gelte auch: «Das Private ist international, und das Internationale ist privat.» Sie argumentiert, dass private Machtbeziehungen nicht nur Nationalstaaten, sondern auch internationale Beziehungen prägen.
Bei einer Konferenz konnte die Politologin 2017 Putin fragen, was Russland im Umgang mit den USA und der EU falsch gemacht habe. «Unser grösster Fehler in den Beziehungen mit dem Westen ist, dass wir Ihnen vertraut haben. Und Ihr Fehler war, dass Sie dieses Vertrauen als Schwäche ausgelegt und missbraucht haben», antwortete Putin. Russland glaubt also nicht mehr an die auf Regeln und Werten basierende europäische Sicherheitsordnung, sondern an das Recht des Stärkeren – und daher will Putin den Westen spalten.
Für Putin ist die Ukraine eine «Hure»
Dieses Misstrauen speist den wachsenden Nationalismus in Russland. Putin wolle die Reformen von Michail Gorbatschow rückgängig machen, schreibt Fischer. Sie kam 1992 als Studentin nach St. Petersburg und sah, wie radikal der Wandel war, wie die Hoffnung in die Demokratie zerplatzte und Gewissheiten zerbrachen. Dies traf vor allem Frauen. In der Sowjetzeit war ihr Anteil am Erwerbsleben höher als im Westen – aber auch in der UdSSR wurden Männer bevorzugt, und für Kinder und Haushalt waren natürlich die Frauen zuständig.
Dass viele Russen in den Neunzigern den Zusammenbruch nicht stoppen konnten und sich in den Alkohol flüchteten, nutzte Putin aus. 2000 wird er Präsident und inszeniert sich als starker Mann. Ein russkij muschik ist verlässlich und als Patriot natürlich bereit, die Heimat zu verteidigen. Homosexualität lehnt der muschik ab, denn er «ist das Gegenbild des feminisierten, ergo schwachen westlichen Mannes, ja des Westens insgesamt».
Als Beispiel für Sexismus in Russland erinnert Fischer daran, dass Putin Anfang Februar 2022 über die Ukraine folgende Vergewaltigungsmetapher nutzte: «Ob du es willst oder nicht, du wirst es hinnehmen müssen, meine Schöne.» Seit 2014 wurde die Ukraine oft feminisiert und etwa als «Hure» diffamiert. Da wundert es nicht, wie Putin über Hillary Clinton spricht: «Vielleicht ist Schwäche nicht die schlechteste Eigenschaft einer Frau.»
Im Corona-Bunker wuchs Putins Wut
Präzise skizziert Fischer Russlands Weg in die Autokratie. Die Proteste gegen Putins Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 werden niedergeschlagen, die Pressefreiheit quasi beendet. Minderheiten werden schikaniert, Kritiker ermordet oder vergiftet. Das Jahr 2020 nennt Fischer ein annus horribilis für den Kontrollfreak Putin, der aus Angst vor dem Corona-Virus wochenlang quasi im Bunker lebte. Dort wuchs Putins paranoide Wut auf den Westen. Die Einschränkungen rund um Corona waren ein Test für die Kriegszensur.
Was folgt daraus für die EU? Fischer rät, zu Hause die liberalen Demokratien und die Wehrhaftigkeit zu stärken. Sie wirbt dafür, die Ukraine, Georgien und Moldau fit zu machen für eine EU-Mitgliedschaft – diese sei der wirksamste Schutz gegen Russlands Chauvinismus, den Populisten in Westeuropa nachahmen. Beim Wiederaufbau der Ukraine sollte Deutschland nicht nur auf Korruptionsbekämpfung bestehen, sondern die Menschen bei der Bewältigung der Kriegstraumata unterstützen. Denn diese Erfahrungen dürfen nicht zu einer «Remaskulinisierung» und zu einem neuen patriarchalen Gewaltzyklus führen.
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