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Kritische Lage in der Ukraine
Die Frontstadt Awdijiwka droht zu fallen

DONETSK OBLAST, UKRAINE - DECEMBER 28: A Ukrainian soldier fires towards the Russian position as the Ukrainian soldiers from the artillery unit wait for ammunition assistance at the frontline in the direction of Avdiivka as the Russia-Ukraine war continues in Donetsk (Photo by Ozge Elif Kizil/Anadolu via Getty Images)
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Wenn Kriegsbeobachter die Lage in Awdijiwka beschreiben, fallen oft Worte wie «Geisterstadt», «Friedhof» oder «Hölle». In der Frontstadt im Osten der Ukraine sind nahezu alle Häuser zerstört oder beschädigt, und die Russen bombardieren weiter. Einst lebten dort über 30’000 Menschen, vor einigen Wochen harrten noch etwa 1000 Zivilisten aus, nun dürften es noch weniger sein. Denn die Russen stehen kurz davor, die Stadt zu umzingeln. 

Dabei sah es zunächst anders aus. Über vier Monate ist eine russische Angriffswelle nach der anderen vor Awdijiwka gescheitert. Auf den Feldern und in den kahlen Wäldern waren die Sturmtruppen des Aggressors ein leichtes Ziel für ukrainische Drohnenpiloten und die Artillerie. Einige Verteidiger konnten sich in einem gewaltigen Kohlewerk nordwestlich der Stadt halten, weshalb die Russen versuchten, weiter entfernte Dörfer zu erobern, um so den Kessel um Awdijiwka zu schliessen. 

Schrittweise zog die russische Armee den Belagerungsring enger, konnte aber lange nicht ins Stadtgebiet vordringen. Ende Januar änderte sich das, womöglich dank eines Überraschungsangriffs. Im Süden zwängten sich russische Soldaten laut Militärbloggern durch einen Abwasserkanal, wodurch sie hinter ukrainische Stellungen gelangten und die Stadt erreichten. Im Norden sollen Sturmtruppen das schlechte Wetter für Frontalangriffe genutzt haben. Um das Kohlewerk zu isolieren, sind die Russen östlich davon vorgeprescht, direkt durch ein Gebiet voller Gartenhäuser.

Die russische Armee will Awdijiwka offenbar mit aller Kraft erobern. Wladimir Putin wäre daran gelegen, noch vor den Präsidentschaftswahlen im März einen Kriegserfolg vorzuweisen. Anders lässt sich kaum erklären, weshalb Russland im Sturm auf eine militärisch gesehen weniger relevante Stadt Tausende Soldaten opfert.

Das amerikanische Institute for the Study of War hat den russischen Vorstoss in die Stadt bestätigt. Auf der Karte von Deepstate, einer ukrainischen Analyseplattform, sind die Angreifer bis an die Bahnlinie vorgerückt und konnten sogar die wichtigste Versorgungsstrasse der Ukrainer abschneiden. Bisher haben sich die Angaben von Deepstate meist als zutreffend erwiesen, allerdings erscheinen sie bewusst verzögert, damit sie der Gegner nicht nutzen kann. 

Nun bleiben den ukrainischen Verteidigern nur noch Feldwege, um Nachschub zu liefern. Viele Beobachter spekulieren bereits, wie lange sich die Frontstadt halten lässt. Einige appellieren an die Armee, endlich aufzugeben, darunter der Kriegskartograf Andrew Perpetua. «Um Himmels willen, Ukraine, verlasst Awdijiwka. Verschwindet einfach», schreibt er auf der Onlineplattform X.

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Ans Aufgeben denkt die ukrainische Armeeführung jedoch offenbar nicht. Ein Teil der 110. mechanisierten Brigade soll zwar abgezogen sein. Aber der zuständige Brigadegeneral Olexandr Tarnawski bestätigte am vergangenen Samstag, dass «neue Kräfte eingesetzt werden». Welche Einheiten verlegt wurden, liess Tarnawski offen. Das Magazin «Forbes» nimmt an, dass die 3. Sturmbrigade in Awdijiwka eingetroffen ist, eine der besten Kampftruppen der Ukraine. 

Die 2000 Mann starke Einheit befand sich seit Dezember in Reserve und soll über westliche Ausrüstung verfügen, darunter amerikanische M2-Bradley-Schützenpanzer. Ihr Auftrag lautet nun wohl: den Russen maximale Verluste zufügen. 

Bisher konnten die ukrainischen Streitkräfte in Awdijiwka für jeden verlorenen Kämpfer zehn Russen niederstrecken, schätzt das Magazin «Forbes». Auch die russischen Materialverluste sind immens. Ein Experte der Forschungsgruppe Oryx hat über 200 Panzer und an die 350 Schützenpanzer verifiziert, die Russland seit Anfang Oktober allein bei Awdijiwka verloren hat. 

In this screen grab from a video taken on Wednesday, Dec. 6, 2023 by the BUAR done unit of the 110th Mechanized Brigade, an ariel view on the ground covered with craters from artillery shell explosions in a destroyed village of Stepove, near Avdiivka, Ukraine. About 150 bodies can be seen in two separate video clips filmed over treelines to the north and south of Stepove. (Ukrainian 110th mechanized brigade via AP)

In den derzeit tobenden Strassenkämpfen droht nun aber auch der Ukraine ein hoher Blutzoll. So wie einst bei der Schlacht um Bachmut, wo Kiew viele kampferprobte Soldaten verlor, während Moskau unerfahrene Wagner-Häftlinge in den Tod schickte. In Awdijiwka kämpfen die Ukrainer jetzt gegen oft schlecht ausgebildete Russen, die fortwährend mobilisiert und an die Front gebracht werden. 

Letztlich leidet selbst die beste ukrainische Brigade unter dem eklatanten Munitionsmangel. Die prekäre Lage in Awdijiwka ist ein Vorbote dessen, was ohne massive Lieferungen aus dem Westen an weiteren Frontabschnitten droht. Die Ukraine verschiesse täglich 2000 Artilleriegranaten – Russland 10’000, warnte ein britisches Militärinstitut im Dezember. Inzwischen sind es auf ukrainischer Seite wohl weniger. Derweil hat Putins Armee am vergangenen Montag über 1200 Geschosse allein auf Awdijiwka abgefeuert, wie der ukrainische Brigadegeneral Tarnawski mitteilte.  

epa11048548 A handout picture made available by the Presidential Press Service shows Ukrainian President Volodymyr Zelensky recording his video address in front of the sign 'Avdiivka is Ukraine' during his trip to the Donetsk region, Ukraine, 29 December 2023. President of Ukraine Volodymyr Zelenskyy visited the advanced checkpoint of the 110th Separate Mechanized Brigade named after General-Corporal Marko Bezruchko, staying in Avdiivka.  EPA/PRESIDENTIAL PRESS SERVICE HANDOUT HANDOUT  HANDOUT EDITORIAL USE ONLY/NO SALES HANDOUT EDITORIAL USE ONLY/NO SALES

Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen, doch der ukrainische Thinktank «CDS» spricht von einem «deutlichen Anstieg der Bombardierungen». Demnach hätten auch die russischen Luftangriffe massiv zugenommen, da es Kiew an Luftabwehrraketen fehle. Behalten anonyme Quellen der «New York Times» recht, enden die ukrainischen Vorräte für die Flugabwehr im kommenden Monat. 

Awdijiwka hat strategisch geringe Bedeutung

Kiews Soldaten versuchen deshalb, das Defizit durch Drohnen auszugleichen, indem sie damit Sturmverbände ausspähen und angreifen. Doch die russischen Artilleristen befinden sich meist ausser Reichweite der kleinen Drohnen. Auch das können die ukrainischen Reservekräfte nicht ändern. Dass sie überhaupt nach Awdijiwka verlegt wurden, sehen einige Beobachter sehr kritisch. Die Stadt ist strategisch gesehen von untergeordneter Bedeutung. Wenn sie fällt, wird die Front nicht durchbrochen, sondern lediglich begradigt. 

Dennoch besuchte Präsident Wolodimir Selenski die Frontstadt im Dezember und sagte bereits zuvor, die dortige Schlacht werde in vielerlei Hinsicht «den Gesamtverlauf des Kriegs bestimmen». Was er genau damit meinte, liess Selenski offen. Als Politiker muss er den Westen davon überzeugen, dass der Krieg noch zu gewinnen ist. Anhaltende Verluste könnten die Unterstützung gefährden und auch einen negativen psychologischen Effekt auf Selenskis Landsleute haben. Die Schlacht um Awdijiwka hat deshalb vor allem symbolischen Charakter. 

Noch ist die Frontstadt nicht verloren. Die ukrainischen Reserven eroberten offenbar kleinere Gebiete zurück. Schaffen es die Russen aber, die letzten Rückzugswege zu kappen, könnten etwa 20’000 ukrainische Soldaten in Gefangenschaft geraten. Für die Aussenwelt schliesst sich dann das Tor zur Hölle.