Krieg in der UkraineRussland verliert so viele Soldaten wie nie seit Kriegsbeginn
Tausende Soldaten hat Russland in der Schlacht um Awdijiwka verloren und schickt doch jeden Tag mehr in den Tod. Welche strategische Bedeutung hat die Stadt?
931. Das ist ukrainischen Angaben zufolge derzeit die durchschnittliche Zahl der täglichen russischen Verluste im Krieg in der Ukraine. Der britische Geheimdienst, der, was die Lage in der Ukraine angeht, meist sehr gut informiert ist, nannte diese Angaben «plausibel». Die Verluste der russischen Armee wären damit in den vergangenen sechs Wochen im Durchschnitt die höchsten seit Kriegsbeginn und noch einmal deutlich höher als beim Kampf um Bachmut (lesen Sie hier einen Bericht über Russlands Strategie in Bachmut) im Frühjahr.
Dort lag die Zahl der Gefallenen, Verwundeten, Gefangenen und Desertierten bei 776 pro Tag. Sogar auf Satellitenbildern war zu erkennen, wie die Friedhöfe im Süden Russlands, auf denen vor allem Söldner der Gruppe Wagner beerdigt wurden, immer grösser wurden.
Auch die ukrainischen Verluste sind hoch
Zu den aktuellen Verlusten der ukrainischen Armee gibt es keine offiziellen Angaben. Es ist davon auszugehen, dass sie niedriger sind als die russischen, da die ukrainische Armee ihre Soldaten vorsichtiger einsetzt. Ebenso verteidigt sie derzeit eher wieder die Frontlinie und versucht nicht, mit Angriffen Geländegewinne zu erzielen, was oft viel verlustreicher ist. Es ist aber wahrscheinlich, dass jeden Tag auch Hunderte ukrainische Soldaten getötet, verletzt und gefangen genommen werden.
Der Grund für diese hohe Zahl an Toten ist die seit Anfang Oktober tobende Schlacht um die Frontstadt Awdijiwka. Mit mechanisierten Verbänden versuchten die Russen, die Stadt von Süden und Norden her schnell zu umschliessen. Das war eine extrem risikoreiche Operation, die in einem Desaster endete. Die russischen Kolonnen wurden durch Minenfelder, Panzerabwehrwaffen und Artillerie gestoppt. In den ersten zwei Wochen waren allein auf geolokalisierten Bildern weit mehr als 200 zerstörte gepanzerte Fahrzeuge zu sehen.
Doch für die russische Armee war das kein Grund aufzugeben. Die Einnahme von Awdijiwka scheint für Moskau gegenwärtig die höchste Priorität zu haben. Nach der gescheiterten ukrainischen Offensive muss der Kreml nun reagieren und seinerseits einen Erfolg vorweisen. Der letzte war Anfang Mai die Einnahme der an sich unbedeutenden Stadt Bachmut. Auch damals gelang der kleine Sieg nur unter immensen Verlusten.
Die russische Taktik ist extrem verlustreich, was vom Kreml aber hingenommen wird.
Den russischen Präsidenten Wladimir Putin scheint das nicht zu stören; womöglich auch in Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr (lesen Sie hier das Porträt über Putins Herausforderin) soll nun mit ähnlichen Mitteln Awdijiwka eingenommen werden.
Die russische Militärführung geht dort ähnlich vor wie in Bachmut: Mit kleinen Infanterietrupps, sogenannten menschlichen Wellen, die ständig Sturmangriffe ausführen müssen, werden die ukrainischen Verteidiger langsam zurückgedrängt. Diese Taktik ist extrem verlustreich, was vom Kreml aber hingenommen wird.
Nach britischen Angaben haben die russischen Luftstreitkräfte zuletzt verstärkt Streubomben genutzt. Bereits zuvor hat Russland bei seinem Angriffskrieg immer wieder von Kampfflugzeugen aus die international geächtete Streumunition eingesetzt.
Das makabre «Prinzip der Masse»
Wie immer wieder in diesem Krieg gehen die russischen Truppen im Stil der alten Sowjet-Militärdoktrin vor und versuchen das «Prinzip der Masse» zu nutzen. Auf das Leben der eigenen Soldaten wird keine Rücksicht genommen.
Auch in Awdijiwka sieht es so aus, als könnte mit dieser blutigen Strategie das Ziel erreicht werden. Im Norden der Stadt wurden die russischen Vorstösse zwar zumindest vorübergehend gestoppt. Hier setzt Kiew relativ frische, gut ausgestattete Einheiten ein, die eigentlich für die ukrainische Gegenoffensive im Süden vorgesehen waren. Und auch eine Nachschubroute aus der Stadt Horliwka konnte man durch einen Gegenangriff unterbrechen.
Doch auch die eigene Versorgung ist durch den Druck, den die russischen Streitkräfte auf die Flanken ausüben, gefährdet, es gibt kaum mehr sichere Verbindungen aus Westen in die Stadt. Und auf die ukrainische Truppenverstärkung reagierten die russischen Kommandanten schnell und eröffneten vor einigen Tagen eine dritte Angriffsachse im Südosten der Stadt.
Aus dem dortigen Industriegebiet mussten sich die Ukrainer mittlerweile fast komplett zurückziehen. Unbestätigten Meldungen zufolge setzt Russland hier Söldner der russischen privaten Militärfirma Redut ein, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzustossen. Auch das ist eine Parallele zu Bachmut, wo Wagner-Kämpfer von Osten kommend die Verteidiger langsam aus der Stadt gedrängt haben. Genau gleich geht Russland jetzt wieder vor.
Hauptsache, ein Erfolg
Ebenso wie Bachmut ist Awdijiwka an sich kaum von Bedeutung. Die Stadt und ihre Industrieanlagen sind grösstenteils zerstört, und es verlaufen keine strategisch wichtigen Verkehrsverbindungen durch die Region. Strategisch würde eine russische Einnahme Awdijiwkas laut dem Militärexperten Michael Kofman in dem Podcast «War on the Rocks» keinen Durchbruch bedeuten, sondern nur ein Glattziehen der Front. Es geht für die russische Armee also wieder nur darum, überhaupt einen Erfolg vorweisen zu können.
Derzeit halten die ukrainischen Truppen die Stadt wahrscheinlich noch, um der russischen Armee weitere Verluste zufügen zu können – und die eigenen dabei möglichst gering zu halten. Es ist aber unklar, wie lange diese kalte Rechnung noch aufgeht. Denn am Ende stehen hinter den blanken Zahlen auf beiden Seiten Menschenleben.
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