Gescheiterte russische Offensive«Politischer Druck und Leichtsinn» endeten für Russen im Desaster
Russland wollte die Stadt Awdijiwka einnehmen. Stattdessen erlitt Putins Armee grosse Verluste. Unter den Ursachen des Scheiterns leidet aber auch die Ukraine.
An Tag 600 des Angriffskrieges gegen die Ukraine, der nach den Plänen des russischen Präsidenten drei Tage hätte dauern sollen, bezeichnete Wladimir Putin die russischen Angriffe bei Awdijiwka als «aktive Verteidigung». Das zeigt: Was russische Militärblogger noch vor einer Woche eine grosse Offensive nannten, an deren Ende die Einnahme der Stadt Awdijiwka hätte stehen sollen, hat sich für die Streitkräfte des Kreml zu einem Desaster entwickelt.
Am 10. Oktober rollten die ersten russischen Kampfpanzer, von Norden und Süden kommend, durch die überwiegend flache ukrainische Region. Das Ziel: die stark befestigte Stadt, gut fünf Kilometer nördlich von Donezk gelegen, einschliessen, von Nachschubwegen abschneiden und einnehmen. Seit den verheerenden Niederlagen bei Wuhledar Ende 2022 und Anfang 2023 hatten die russischen Truppen eine solche Operation nicht mehr gewagt.
Mit gepanzerten Fahrzeugen zügig in feindliches Gebiet vorstossen – diese Art des Bewegungskrieges mit dem Ziel eines schnellen Durchbruchs ist extrem risikobehaftet. Umso überraschender kam für viele Beobachter die jetzige Offensive.
Dutzende zerstörte russische Fahrzeuge
Die ukrainischen Landesverteidiger waren aber keineswegs überrascht. Mit Minenfeldern, Panzerabwehrfeuer und Artillerie konnten sie die russischen Kolonnen stoppen und Dutzende, möglicherweise sogar mehr als einhundert gepanzerte Fahrzeuge zerstören.
«Das war eine Mischung aus politischem Druck und Leichtsinn», sagt Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR), über die Angriffe. Putin übe starken Druck auf seine Generäle aus, offensiv tätig zu werden. Doch aufgrund gut einsehbaren flachen Geländes bei Awdijiwka sei ein Angriff hier äusserst kompliziert. Die russischen Verbände fuhren ins Verderben.
Dieses Scheitern verrät viel über die aktuelle Situation an der Front. Es zeigt, wie schwer es Streitkräften fällt, von einem Abnutzungs- in einen Bewegungskrieg umzuschalten. Und zwar nicht nur den russischen, sondern auch den ukrainischen. Anfang Juni, zu Beginn ihrer Offensive im Süden, hatten die Soldaten der Ukraine ebenfalls schnelle Angriffe mit grösseren gepanzerten Verbänden versucht – und waren ebenfalls damit gescheitert. Seither führt Kiews Armee dort wieder einen Abnutzungskampf.
Fast lückenlose Drohnenaufklärung verunmöglicht Offensive
Gressel hat mehrere Gründe dafür identifiziert, dass es derzeit sowohl für die ukrainischen als auch die russischen Streitkräfte kaum möglich ist, in den Bewegungskrieg zu kommen. So verfügten mittlerweile beide Seiten über ein System, mit dem Artillerie extrem schnell zum Einsatz gebracht werden könne.
«App-basiert geht die Feueranforderung in zwei bis drei Minuten direkt an die schiessenden Einheiten», sagt Gressel. Ein solches System nutzt die Ukraine schon seit Beginn des Krieges, jetzt hat Russland es imitiert und kann damit ebenfalls das Feuer verstreut aufgestellter Geschütze schnell auf einen Punkt lenken.
Zudem können panzerbrechende Drohnen, die nur sehr schwer zu bekämpfen sind, mechanisierte Durchbruchsversuche schnell stoppen. 4000 davon baut Russland laut der Ukraine jeden Monat. Und drittens: Überraschungsmomente sind wegen der fast lückenlosen Gefechtsfeldüberwachung durch Drohnen kaum mehr möglich. «Die sehen alles», sagt Gressel. «Das gläserne Gefechtsfeld ist ein gewaltiges Problem für beide Seiten.»
Russen schiessen wieder mehr dank Munition aus Nordkorea
Die beiden Kernelemente mechanisierter Angriffe – Überraschung und Konzentration starker Kräfte – werden durch die technischen und taktischen Neuerungen unmöglich gemacht. Darauf hat noch keine Seite eine Antwort gefunden. Das Ziel der ukrainischen Offensive, das Asowsche Meer zu erreichen und die Krim abzuschneiden, sei deshalb in diesem Jahr kaum mehr zu erreichen, glaubt Gressel.
Auch die verheerende Niederlage bei Awdijiwka ändere daran nichts. «Die Russen haben genug Kräfte und Gerät, um sich das leisten zu können», sagt der Experte. Ausserdem würden Munitionslieferungen aus Nordkorea die Feuerüberlegenheit der Ukraine bei der Artillerie, die sie in den vergangenen Monaten zum ersten Mal in diesem ganzen Krieg hatte, zurzeit wieder zunichtemachen. Zwar habe die Ukraine dem Feind gerade bei Artilleriesystemen grosse Verluste beibringen können, so Gressel. Doch jetzt «schiessen die Russen wieder mehr».
Ukraine gelingt Angriff auf russische Militärflugplätze
Es werde deshalb in den kommenden Wochen wohl keine grösseren Durchbruchsversuche der Ukraine mehr geben, glaubt Gressel. Aber man werde aus dieser Offensive lernen und es im kommenden Jahr noch einmal versuchen. Völlig ausschliessen will Gressel weitere Versuche in naher Zukunft aber nicht.
Eine wichtige Voraussetzung dafür könnte Kiew gerade geschaffen haben: In der Nacht von Montag auf Dienstag hat die Ukraine zwei strategisch wichtige Militärflugplätze angegriffen – einen bei Berdjansk ganz im Süden des Landes und einen im Osten bei Luhansk. Beide Flugplätze lagen bisher ausserhalb der ukrainischen Reichweite.
Laut amerikanischen Medien wurden dafür erstmals die von den USA gelieferten ATACMS-Kurzstreckenraketen eingesetzt. Ersten Berichten zufolge wurde bei den Angriffen eine grosse Zahl russischer Hubschrauber und Flugzeuge zerstört. Gerade Kampfhubschrauber hatten die ukrainischen Vorstösse im Süden zuletzt immer wieder gestoppt.
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