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Neue Phase im Ukraine-Krieg
Russland bestimmt die Kämpfe an der Front

Ukrainian servicemen provide area security during a visit by Gen. Oleksandr Pavliuk, commander of the Joint Forces Operation, to frontline positions outside Avdiivka, Donetsk region, eastern Ukraine, Wednesday, Feb. 9, 2022. (AP Photo/Vadim Ghirda)
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Täglich donnert die Artillerie, fliegen die Raketen, und die Frontlinie bewegt sich kaum. Im Osten nichts Neues, könnte man meinen. Doch im Ukraine-Krieg hat eine neue Phase begonnen. Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert, und Wolodimir Selenski, der Präsident höchstpersönlich, hat der Armee im vergangenen November befohlen, neue Befestigungen entlang der 1000 Kilometer langen Frontlinie zu errichten.

Selenskis Entscheid markierte einen Umbruch, nun muss sich die Ukraine neu aufstellen. Eine Grossoffensive wäre wohl erst wieder 2025 denkbar, meint das estnische Verteidigungsministerium. Bis dann müsse die Ukraine neue Soldaten ausbilden, die Waffenproduktion steigern und mehr westliche Unterstützung erhalten (lesen Sie hier eine Analyse zu den abflachenden Waffenlieferungen).

Inzwischen habe Russland fast entlang der gesamten Frontlinie die Oberhand zurückgewonnen, urteilt das amerikanische Institute for the Study of War. Das heisst, die russische Armee kann in der Offensive bestimmen, wo die grössten Schlachten stattfinden. Und das tut sie bereits.

40’000 Soldaten sollen Frontstadt umzingeln

So hat sich das Kriegsgeschehen verlagert. Während der ukrainischen Gegenoffensive fanden die schwersten Kampfhandlungen im Südosten statt. Nun vor allem im Osten, bei Ortschaften wie Awdijiwka. Die Frontstadt ist laut dem britischen Geheimdienst das wichtigste Ziel der Russen. Dort versuchen sie seit Oktober, die Ukrainer zu umzingeln – mit zwei Armeen, die zusammen 40’000 Soldaten umfassen.

Gelingt es den Russen, Awdijiwka zu besetzen, könnten sie die Frontlinie zurückdrängen. Das würde es der Ukraine erschweren, Teile der Region Donezk zu befreien. Denn von Awdijiwka erreicht ihre Artillerie wichtige Eisenbahnlinien (lesen Sie hier, welche strategische Bedeutung Awdijiwka hat).

Bis anhin aber kommen die Russen nur schleppend voran. Ukrainische Kämpfer verschanzen sich derzeit in einem riesigen Stahlkomplex. Von dort aus fügen sie dem Gegner enorme Verluste zu. Der amerikanische Geheimdienst schätzt, dass die russischen Streitkräfte in Awdijiwka mittlerweile über 13’000 Soldaten und mehr als 220 Kampffahrzeuge verloren haben.

AVDIIVKA RIGION, UKRAINE - DECEMBER 23: Destroyed Russian armored vehicles used to storm Avdivka on December 23, 2023 in Avdiivka, Ukraine. Both Ukraine and Russia have recently claimed gains in the Avdiivka, where Russia is continuing a long-running campaign to capture the city, located in the Ukraine's eastern Donetsk Region. (Photo by Kostya Liberov/Libkos/Getty Images)

Putins Armee gleicht ihre Verluste aus

Russland kann aber seine Truppen fortlaufend verstärken, über den nahe gelegenen Bahnhof der Stadt Donezk. Die russische Armee schaffe es sogar, sämtliche Verluste auszugleichen, sagte Wadim Skibitski Mitte Januar, der zweitmächtigste Befehlshaber im ukrainischen Militärgeheimdienst. Laut ihm rekrutiert die Armee jeden Monat 30’000 neue Soldaten in den besetzten ukrainischen Gebieten und in Russland. Unabhängig prüfen lassen sich diese Angaben nicht.

Aber auch der Militärforscher Niklas Masuhr geht davon aus, dass die russischen Streitkräfte dadurch ihre Schwächen ausgleichen. Bei Manövern seien die Russen unterlegen, da sie schlechtere Ausrüstung besässen und ihre Kampfmoral niedriger sei. Als Folge versuche Russland, die zahlenmässige Überlegenheit auszuspielen, vor allem bei der Artillerie und dem Personal.

Fortlaufend neue Wehrpflichtige zu mobilisieren, hat aber auch einen Nachteil. «Die Truppenqualität nimmt ab», erklärt Masuhr, der am Center for Security Studies der ETH Zürich forscht. Unerfahrene Soldaten sind für eine Offensive weniger geeignet. Das erklärt mitunter, weshalb die Russen an Frontabschnitten wie Awdijiwka nur schrittweise vorankommen.

Ukrainer haben neue Verteidigungsstrategie

Wie minimal die russischen Geländegewinne sind, zeigt eine Auswertung des Datenprojekts «War Mapper». Demzufolge gelang es den russischen Streitkräften im Dezember, um die 32 Quadratkilometer einzunehmen. Bei diesem Tempo bräuchten sie über 1000 Jahre, um die gesamte Ukraine zu erobern.

Für einen entscheidenden Durchbruch müssten Truppen konzentriert werden. Wie schwierig das ist, mussten auch die Ukrainer bei der Gegenoffensive erfahren. Ansammlungen werden in der weitverbreiteten Steppenlandschaft schnell entdeckt und bombardiert, was zu vielen Toten führt. Daher werden die einzelnen Gefechte in kleinen Verbänden geführt. «Und daraus resultieren die kriechenden Vormärsche», sagt Masuhr.

Besonders deutlich zeigt sich das an der Nordfront, entlang der Städte Kupjansk, Swatowe und Kreminna. Russland kämpft dort seit Herbst 2022, jedoch ohne bedeutende Erfolge. Weiter südlich konnten die Russen einzelne Städte wie Marjinka erobern – unter hohen Verlusten. Denn die Ukrainer haben ihre Verteidigungsstrategie angepasst. «Statt jeden Meter zu halten, priorisieren sie die Abnutzung des Gegners», sagt Masuhr.

Lage an der Front könnte jederzeit kippen

Die USA drängten Kiew dazu, noch stärker in die Abwehr zu wechseln, berichtet die «Financial Times». Das ist bemerkenswert, da die rechte Hand von Selenski, Andri Jermak, den Wunsch der Amerikaner ablehnt. «Ein Verteidigungskrieg führt oft zu einem eingefrorenen Konflikt», rechtfertigte sich Jermak in einem Interview mit der französischen Zeitung «Le Figaro». Auch das Institute for the Study of War (ISW) mahnt, dass Russland über ein Jahr die Oberhand behalten könnte, wenn die Ukrainer in eine Defensive übergehen.

Dabei ist nicht garantiert, dass es die ukrainische Armee schafft, genügend Kräfte für eine grosse Gegenoffensive aufzubauen. Denn die Russen können Kiew zu verlustreichen Kämpfen zwingen. Es entstünde eine Pattsituation – ganz im Sinne von Wladimir Putin. Der russische Präsident setzt darauf, dass die westliche Unterstützung schwindet (lesen Sie hier eine Analyse über den Hilferuf des ukrainischen Armeechefs).

Nun stehen der Ukraine entscheidende Wochen bevor. Das ISW warnt eindringlich, dass der Stellungskrieg nicht stabil sei. Die Situation könne jederzeit kippen, abhängig von den Entscheidungen im Westen und in Russland. Ein Zusammenbruch der westlichen Hilfe würde wahrscheinlich dazu führen, dass das russische Militär nicht mehr aufzuhalten wäre. Russland könnte dann weiter nach Westen vordringen, womöglich bis zur Nato-Grenze.

In this screen grab from a video taken on Wednesday, Dec. 6, 2023 by the BUAR done unit of the 110th Mechanized Brigade, an ariel view on the ground covered with craters from artillery shell explosions in a destroyed village of Stepove, near Avdiivka, Ukraine. About 150 bodies can be seen in two separate video clips filmed over treelines to the north and south of Stepove. (Ukrainian 110th mechanized brigade via AP)