Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Soldaten gesucht
Während Selenski am WEF ist, durchlebt die Ukraine eine Zerreissprobe

Ukrainian volunteer military recruits take part in an urban battle exercise whilst being trained by British Armed Forces at a military base in Southern England, Monday, Aug. 15, 2022. MOD and British Army as the UK Armed Forces continue to deliver international training of Ukrainian Armed Forces recruits in the United Kingdom.(AP Photo/Frank Augstein)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Am Weltwirtschaftsforum (WEF) wird Wolodimir Selenski etwas fordern, für das er sich seit bald zwei Jahren einsetzt: mehr westliche Unterstützung für sein Land. (Alle News zu Selenskis Besuch im Ticker.)

Genauso wichtig für das Bestehen der Ukraine ist jedoch etwas anderes: die Mobilisierung neuer Soldaten. Am Dienstag wird der Präsident in Davos versuchen, das Thema zu vermeiden. Denn es wirft eine schwierige Frage auf: Wen soll der Staat an die Front schicken? In Kiew tobt bereits eine hitzige Debatte. Ihr Ausgang kann den Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft ernsthaft gefährden. 

Experten sind sich einig, dass die Ukraine ohne verstärkte Mobilisierung ihre Ziele nicht erreicht. Russland hat zwar enorme Verluste erlitten – an die 300’000 Tote und Verwundete gegen Ende 2023. Doch Putin hat die Armee seit der Mobilmachung im Herbst 2022 aufgestockt. Einige Beobachter warnen vor einer neuen Einberufungswelle nach den Präsidentschaftswahlen.

Die Ukraine verzeichnet ebenfalls einen hohen Blutzoll. Die jüngste Einschätzung der USA aus dem vergangenen August geht von 190’000 Toten und Verletzten aus. Seither ging das Sterben an der Front weiter. Von den noch Lebenden kämpfen viele seit Beginn der Invasion – ohne längeren Unterbruch. Sie sind erschöpft, das räumte selbst der ukrainische Oberbefehlshaber Waleri Saluschni ein (lesen Sie hier unsere Reportage von der ukrainischen Front).

Härtere Strafen für Wehrdienstverweigerer

Um die Armee wieder schlagkräftig aufzustellen, soll Saluschni um zusätzliche 400’000 bis 500’000 Soldaten gebeten haben. Dies hätte zur Folge, dass jeder zehnte Mann im erwerbsfähigen Alter mobilisiert würde. Ein enormes Ausmass, das der Popularität von Wolodimir Selenski zu schaden droht. Der Präsident sagte denn auch, er wolle zuerst mehr Argumente hören. 

Im Hintergrund aber brütete bereits das Ministerkabinett auf Wunsch der Armee über einem neuen Gesetz, um mehr Menschen in den Kriegsdienst zu stellen. Kurz vor Silvester kam es ins Parlament. Der Entwurf sieht vor, das Mindestalter für die Mobilmachung von 27 auf 25 Jahre zu senken – und Wehrdienstverweigerer härter zu bestrafen. So wäre es möglich, staatliche Leistungen zu unterbinden. Und wer eine Untersuchung auf Diensttauglichkeit verweigert, müsste dann bis zu fünf Jahre ins Gefängnis. 

Die ukrainische Gesellschaft reagierte in den sozialen Medien derart heftig, dass das Parlament den Gesetzentwurf vergangene Woche zurück an das Ministerkabinett schickte. Es hiess, einige Bestimmungen würden gegen die Menschenrechte verstossen. Eine Indiskretion in den ukrainischen Medien heizte die Debatte weiter an. Demnach soll die Regierung darüber diskutieren, ob bedeutende Steuerzahler und systemrelevante Personen vom Militärdienst befreit werden. Für viele Ukrainer ist das eine Diskriminierung der Armen.

Ukraine ist wirtschaftlich angeschlagen

Befürworter argumentieren, so liessen sich zwei Probleme angehen: die Armee aufstocken und die Wirtschaft am Laufen halten. Beide hat die russische Invasion immens gefordert. Für 2024 erwartet die Ukraine ein Staatshaushaltsdefizit, das 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) beträgt. Allein in diesem Jahr beläuft sich das Verteidigungsbudget auf die Hälfte aller Ausgaben. 

Für Selenski wäre es optimal, wenn nur Freiwillige in die Truppenverbände aufgenommen würden. Aber die Zeiten, in denen die Ukrainer vor den Mobilisierungszentren Schlange standen, sind vorbei. Selbst die Regierung glaubt nicht, dass sich ausreichend Freiwillige finden lassen. Sonst hätte sie dem Parlament nicht neue Sanktionen gegen Verweigerer unterbreitet. 

Ein höherer Sold würde den Militärdienst attraktiver machen. Aber dafür mangelt es dem Staat an Geld. Die Situation erscheint ausweglos, weshalb ungewöhnliche Ideen kursieren. So schlug der ehemalige Wirtschaftsminister Timofi Milowanow vor, eine Art Lotterie zu prüfen. Nach dem Zufallsprinzip würde der Staat einen Tag und einen Monat bestimmen. Alle, die an diesen Daten geboren sind, müssten kämpfen. Aber auch dieser Vorschlag stösst auf Widerstand, da er als zu willkürlich gilt.

Derweil wächst in der Ukraine die Angst vor einer Mobilisierung. Bereits jetzt verteilt das Militär Vorladungen in Unternehmen, Fitnessstudios oder Cafés. In Zukunft wäre es sogar möglich, die Dokumente elektronisch zuzustellen. Und wer nicht reagiert, wird bestraft. 

Vertrauen in Selenski bröckelt

Russland hat das Spaltungspotenzial der Debatte erkannt. Mit Desinformation versucht der Kreml, die Angst zu schüren. Erst kürzlich behaupteten russische Propagandisten, sämtliche Frauen bis zum Alter von 60 Jahren würden mobilisiert. Auch wenn die ukrainischen Behörden schnell auf Falschnachrichten reagieren: Der Schaden ist angerichtet (lesen Sie hier, wie eine Schweizer Influencerin russische Propaganda verbreitet).

Noch blicken die meisten Ukrainer zuversichtlich nach vorn. Mitte Dezember gaben bei einer repräsentativen Studie 54 Prozent an, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickelten. Doch der Optimismus schwindet. Im Mai 2022 lag dieser Wert noch bei 68 Prozent. Und auch das Vertrauen in Selenski geht zurück (von 90 auf 77 Prozent). 

Der Präsident lenkt wohl auch deshalb bei Auftritten wie am WEF die Aufmerksamkeit lieber auf westliche Waffenlieferungen. Für deren Abflachen trägt er nicht die volle Verantwortung. Lange aber kann er der Mobilisierung nicht mehr aus dem Weg gehen. Bis Ende Jahr will das Militär die nötigen Kräfte mobilisiert haben. Egal, für was sich Selenski entscheidet. Er muss Abstriche machen.