Attacken auf Ukraine 11’000-mal hat Russland aus der Luft angegriffen, und Kiew gehen die Abwehrraketen aus
Die Ukrainer können nur die wichtigsten Städte und Infrastrukturen schützen – und fraglich ist, wie lange. Russland hat die Waffenproduktion markant gesteigert.
Es war eine unerfreuliche Schätzung des Sprechers des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR. Russland habe einen Vorrat von «mehr als 800 Hochpräzisionsraketen» für Angriffe auf die Ukraine angelegt, sagte HUR-Sprecher Andri Jussow vor knapp zwei Monaten. Das einzig Positive: Moskaus Raketenvorrat sei deutlich kleiner als zu Beginn der Invasion. «Letztes Jahr hatte der Feind bedeutend grössere Vorräte an Raketen.»
Seit Beginn des Überfalls am 24. Februar 2022 habe Russland schon vor den jüngsten Angriffen 7400 Raketen und 3700 Shahed-Drohnen auf die Ukraine abgeschossen, sagte Kiews Luftwaffensprecher Juri Ihnat. Vom 29. Dezember 2023 bis zum 2. Januar seien weitere 300 Raketen und 200 Shahed-Drohnen abgefeuert worden, überschlug der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.
Die britische Militäraufklärung analysierte an diesem Mittwoch, Moskau habe «einen bedeutenden Teil des Vorrats an Marschflugkörpern und Raketen abgeschossen, den es über die letzten Monate aufgebaut hat». Eine Schnellkalkulation, dass Russlands Arsenal nun auf nur noch rund 500 Marschflugkörper und Raketen geschrumpft sei, geht jedoch nicht auf.
Bis zu 200 neue Raketen und Marschflugkörper pro Monat
Laut HUR-Sprecher Jussow produziert Russland jeden Monat 100 neue Raketen und Marschflugkörper. Das Verteidigungsministerium des Nato-Mitglieds Estland warnt in einem neuen Report, Russland könne die Produktion von Marschflugkörpern und Raketen 2024 auf monatlich 200 erhöhen.
Die in Russland tätige ukrainische Untergrundgruppe Atesch meldete etwa Ende Oktober 2023, dass eine Raketenfabrik im sibirischen Tscheljabinsk weitere Produktionshallen gebaut und ihr Personal von 10’000 auf 17’000 Mitarbeiter aufgestockt habe.
Und kürzlich berichtete sie über das Mitschurinski-Werk für Luftfahrt- und Raketentechnik in der Region Tambow: Das Werk habe mit der Produktion von Elektronik für Suchoi-Kampfflugzeuge und für Drohnen begonnen. Probleme bei der Teilebeschaffung für diese militärische Produktion seien nach dem Besuch einer Delegation aus China beseitigt worden.
Angriffe vor allem auf ukrainische Verteidigungsindustrie
Die «Washington Post» hatte im August 2023 eine damals noch im Aufbau befindliche Drohnenproduktion in einem Werk in der russischen Region Tatarstan gemeldet. Gemäss Informationen des estnischen Verteidigungsministeriums hat Russland 1500 Shahed-Drohnen gebunkert, zudem würden diese Drohnen mittlerweile in Russland selbst produziert.
Anders als im Winter 2022/2023 hat Russland bei den jüngsten, massiven Angriffen vor allem die Verteidigungsindustrie der Ukraine angegriffen, wie der britische Militärgeheimdienst berichtet. «Russlands Planer erkennen fast mit Sicherheit die wachsende Wichtigkeit der jeweiligen Kapazität der Verteidigungsindustrie, während sie sich auf einen langen Krieg vorbereiten.»
Zwar sind bei den Bildern von russischen Treffern in Kiew und anderswo keine zerstörten Unternehmen der Verteidigungsindustrie zu sehen, sondern ausschliesslich zivile Objekte. Doch derlei Aufnahmen sind Fotografen in der Ukraine im geltenden Kriegsrecht ebenso verboten wie die Nennung militärischer Standorte oder Rüstungsfirmen. Zuletzt sei auch kritische und militärische Infrastruktur getroffen worden, schreibt das Institut für Kriegsstudien in Washington in einem neuen Bericht zum Ukraine-Krieg.
Russland bereitet Angriffe auch mit elektronischer Spionage vor: Der ukrainische Dienst von Radio Liberty berichtete Anfang Dezember 2023, Tausende ukrainische Überwachungskameras seien mit der russischen Trassir-Software ausgerüstet. Die Daten dieser Kameras liefen über russische Server, deren Besitzer mit Russlands Geheimdienst FSB verbunden seien.
Der ukrainische Geheimdienst SBU meldete, er habe seit Beginn des russischen Überfalls rund 10’000 ins Internet übertragende Kameras blockiert, deren Bilder Moskau womöglich für Angriffe genutzt habe. Jetzt habe der SBU in Kiew zwei Online-Überwachungskameras auf dem Balkon eines Wohnungsblocks und an einem Parkplatz demontiert, die kritische Infrastruktur wie ukrainische Luftverteidigung gezeigt hätten und von Moskau gehackt worden seien.
Kiews Luftabwehr ist beim Abschiessen russischer Raketen und Drohnen deutlich erfolgreicher als zu Beginn des Krieges. Westliche Systeme wie die Flakpanzer Gepard und das Iris-T-System, das französisch-italienische Samp/T, das norwegisch-amerikanische Nasams oder das US-amerikanische Patriot sind hocheffektiv.
Ukraine schiesst zehn Kindschal-Überschallraketen ab
In der Nacht auf den letzten Dienstag schossen Patriot-Raketen – laut General Waleri Saluschni – alle zehn von russischen MiG-31K auf ukrainische Ziele abgefeuerten Kindschal-Überschallraketen ab. «Das ist ein Rekord. Hätten die Raketen ihre Ziele getroffen, wären die Folgen katastrophal gewesen», liess Saluschni verlauten. Er sagte aber nicht, um welche Ziele es sich handelte.
Doch die Ukraine kann nur die wichtigsten Objekte und Städte schützen – und fraglich ist, wie lange. Luftwaffensprecher Juri Ihnat sagte, Hauptziel sei es, «die gesteuerten Boden-Luft-Raketen zu sparen, die für uns unverzichtbar sind, um die russische Luftwaffe im Zaum zu halten». Die Ukraine hat Patriot und Iris-T, aber auch sowjetische Luftabwehrsysteme wie S-300 und SA-8 Osa.
Russische Kampfjets fliegen meist in sicherer Entfernung. Gleichwohl hat die Ukraine mehrere Flugzeuge mit Patriot-Flugabwehrraketen abgeschossen. Ihren Vorrat an Luftabwehrraketen hat die Ukraine wohl grossteils verbraucht.
Wie bei den von der Ukraine dringend benötigten Artilleriegranaten müsse die Produktion in Europa schnell erhöht werden, heisst es im neuesten Report des Verteidigungsministeriums von Estland. Die Nato will nun 1000 Patriot-Raketen bestellen. Unklar ist allerdings, ob diese auch an die Ukraine gehen sollen.
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