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Interview zu Performance & Politik
«Wie ein Musiker wurde Trump mit der Übung besser»

EDINBURGH, SCOTLAND - AUGUST 14: Professor Richard Sennett attends the Edinburgh International Book Festival 2023 at Edinburgh College of Art on August 14, 2023 in Edinburgh, Scotland. (Photo by Roberto Ricciuti/Getty Images)
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In den USA tobt der Wahlkampf, und einer seiner wichtigsten Faktoren ist die Show der Kandidaten, sind ihre «Vibes». Der vielfach geehrte US-Soziologe und Stadtforscher Richard Sennett, 1943 in Chicago geboren, ausgebildet als professioneller Cellist, untersucht in seinem neuen Buch «The Performer: Art, Life, Politics» genau diese Macht der Performance – auch das Talent eines Donald Trump.

Herr Sennett, wesentlicher Anstoss für Ihr Buch waren Donald Trump und Boris Johnson – und Ihre Angst.

Die Vereinigten Staaten und Europa stehen am Rand eines neuen repressiven Zeitalters, und während ich diese Entwicklung mit sehr grosser Sorge beobachtete, fiel mir auf, dass die Führungsfiguren eine Ähnlichkeit mit Musikern aufweisen: Es sind theatrale Demagogen, die die nonverbale Kommunikation mit dem Publikum beherrschen. In ihren Reden verwenden sie ständig dieselben leeren Klischees und Worthülsen und hämmern sie auf ihr Publikum ein. Dabei verleihen sie diesen körperlich, also nonverbal, Leben und elektrisieren auf eine Weise, wie ich persönlich es aus der Welt der Musik und des Tanzes kenne. Diese Verbindung zwischen hoher Kunst und Politik faszinierte mich.

Woran denken Sie konkret?

Das reicht von Äusserlichkeiten bis zum Sprechrhythmus. Da operierte Boris Johnson optisch mit seinem Vogelnest auf dem Kopf und der Illusion des Durchschnittstypen von nebenan. Oder Silvio Berlusconi mit seiner Entourage halb nackter Frauen. Aber nicht bloss die Rechten verstehen sich auf nonverbale performative Techniken: Barack Obama beispielsweise ist ein Könner des Blickkontakts, und die lachende Kamala Harris hat eine viel stärkere Präsenz als die sprechende. Aber eines sehen wir praktisch bei allen.

Was denn?

Sowohl das musikalische wie das politische Performen nutzt das Tempo Rubato: diese freie, feine Veränderung von Tondauer, von Geschwindigkeit und Puls einer Passage. Donald Trump ist ein Meister des Rubato, er verlangsamt und legt wieder zu, es entsteht eine regelrecht musikalische Rede, obwohl die Sätze entsetzlich sind. Irgendwie zwingt es einen, zuzuhören, man geht mit wie bei einem Refrain. In der Popmusik ist das eine vertraute Strategie, aber selbst die klassische Musik verwendet sie. Wenn bekannte Melodien durch Rubato akzentuiert werden, klingen sie frisch. Ähnlich werden auch kleine Pausen eingesetzt, Obama ist Maestro solcher Pausen. Als Cellist höre ich die Musikalität von beiden Ex-Präsidenten – mal bösartig und schädlich, mal gutartig eingesetzt.

Republican presidential nominee former President Donald Trump reacts after speaking at a campaign event at Precision Custom Components, Monday, Aug. 19, 2024, in York, Pa. (AP Photo/Matt Slocum)

Moduliert Donald Trump seine Sprechgeschwindigkeit und Intonation bewusst, oder ist es eher Instinkt und Talent?

Das ist interessant: Für mein Buch musste ich mir etliche seiner alten Auftritte und Reden antun – sie sind richtig schlecht und haben lange nicht diese gebieterische Aura. Der Mann war einfach ein reicher, verwöhnter Typ aus New York. Doch wie ein Musiker wurde er mit der Übung besser. Man sieht das auch sehr gut in seiner Fernsehserie «The Apprentice»: Er wurde über die 14 Staffeln stetig besser. Er hat da sehr bewusst an den Ausdruckstechniken gearbeitet.

Heute wirkt er immer mal wieder verwirrt.

Inzwischen sind seine expressiven Fähigkeiten geschrumpft, weil er zunehmend unter Demenz leidet.

Unter Demenz?

Absolut. Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, das wird von medizinischen Kreisen gesagt, die seine Auftritte analysiert haben; sie legen Beweise vor.

Kann und darf man so etwas behaupten, ohne den Patienten selbst untersucht zu haben?

Ja, man kann. Diese Zurückhaltung ist schweizerische Vorsicht von Ihnen! Was jedenfalls hoch spannend ist: Solche nonverbalen Fähigkeiten verlieren sich bei einer Demenz als Letztes, sie werden bloss mechanischer eingesetzt. Ich habe schon ältere Menschen mit Demenz unterrichtet und habe das selbst gesehen. So bleibt zum Beispiel die Nutzung des Pedals beim Klavierspielen sehr lange erhalten. Bei Trump sieht man auch solche eingeübten Automatismen.

Vice President Kamala Harris delivers remarks at a campaign event in Pittsfield, Mass., Saturday, July 27, 2024. (AP Photo/Stephanie Scarbrough)

Ist Kamala Harris nicht auch theatralisch unterwegs? Ebenso wie der grosse Nominierungsparteitag der Demokraten?

Ja, natürlich. Es begann vor ein paar Wochen mit ihrem Lachen. Doch mittlerweile präsentiert Kamala Harris auch konkrete politische Vorschläge, die viel Sinn machen, etwa für die Wirtschaftspolitik. Performance per se ist nicht rechts oder links, jeder Politiker, jede Politikerin spielt mit Theatertechniken. Auf die Substanz kommt es an.

Bei Joe Biden hat das Auftreten nicht mehr funktioniert. Hat Sie sein Rücktritt überrascht?

Was soll ich sagen? Es war schon speziell für mich, schliesslich ist Joe Biden genau gleich alt wie ich, 81. Auch ich werde langsamer und hatte da einen Moment der Erkenntnis. Aber soweit wir es beurteilen können, war er ein herausragender Präsident und hat viele Dinge erreicht, die Barack Obama nicht erreicht hat, zum Beispiel die Verbesserungen der studentischen Finanzen.

Zurück zum Wahlkampf: Ein weiteres quasi-musikalisches Phänomen, das wir an Trump-Wahl-Rallys ebenso erleben, wie bei den Demokraten, ist der Wechselgesang. Bei der Erwähnung des Namens Hillary Clinton etwa chanteten die Trump-Fans seinerzeit «Lock her up!»

Richtig. Eine ähnliche Reaktion gibts umgekehrt bei der Erwähnung von Trumps Running Mate J. D. Vance – die demokratischen Anhänger rufen: «He’s a weirdo! He’s a weirdo!» Vor drei Jahrhunderten reagierten die Zuschauer im englischen Theater noch auf die gleiche Art: «To Be –», sprach der Schauspieler, und «or not to be!» antwortete das Publikum. Auch aus religiösen Ritualen kennt man die Antiphone. Sie kreiert das Gefühl einer – eigentlich unbegründeten – tief sitzenden Identifikation: exakt das, was Politiker erreichen wollen. Wer solche Techniken selbstsicher anwenden kann und sich ganz in den Moment gibt, hat diese nötige Bühnenpräsenz, ist ganz im Jetzt und zieht sein Publikum mit hinein.

Ist das schlimm?

Das Problem ist, dass man eine Menschenmenge damit in Lügengebilde oder gar in Gewaltexzesse hineinfantasieren kann. Ohne Führung wird sie dann noch blutrünstiger, wie beim Sturm auf das Capitol am 6. Januar. Die Kunst, die Masse mit falschen Fakten imaginär aufzupeitschen, kam jüngst leider auch in Grossbritannien zum Tragen.

Gibt es eine positive Seite der Performance?

Nicht nur als Schauspieler oder Musikerin kommt man ohne Bühnenpräsenz nicht aus, sondern selbst der Städtebau kann von solchen Kenntnissen profitieren. Als Stadtforscher interessiert mich die Idee des öffentlichen Platzes als Theater. Passende Bühnensets, Bühnenakustik, Eingänge und Ausgänge: Solche Dinge schaffen auch in der Stadt offene Räume, die es erlauben, dass ganz unterschiedliche Menschen einander von Angesicht zu Angesicht begegnen und sich dennoch sicher fühlen. Wie gelingt es, im öffentlichen Raum diesen Sinn für ein Strassenerlebnis à la flanierendem Walter Benjamin zu schöpfen, in dem Unterschiedlichkeit anregt, statt bedrohlich wirkt? Also eine Art Strassentheater.

Strassentheater?

Sich am Theater zu orientieren, wenn man öffentlichen Raum designt, kann heilen und Anstoss für eine alternative Politik sein. Neapel und London sind dafür gute Beispiele.

Richard Sennett plant zwei weitere Bände über das Narrative und über die bildende Kunst in der Gesellschaft.

Trotz der jüngsten rassistischen Ausbrüche in Grossbritannien?

In den kosmopolitischen Städten wie London, Glasgow und Edinburgh geschah nicht so viel. Die Gewalttäter verbanden sich eher über das Internet und stammten mehrheitlich aus der fragmentierten Mittelschicht in der Provinz: Echte Begegnungen mit Menschen mit anderem Hintergrund hatten sie meist nicht gehabt.