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Stadtentwicklung in Japan
«Man müsste die Blätter aufkehren» – Tokio verliert seine Bäume

Blick auf Azabudai Hills.
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In Kürze:
  • Azabudai Hills, ein neues urbanes Viertel in Tokio, wurde im November 2023 eröffnet.
  • Stadtplaner kritisieren den fehlenden Fokus auf ursprüngliche Urbanität in Tokio.
  • In Tokio fehlen Gesetze, um bestehende Grünflächen effektiv zu schützen. Proteste nehmen zu.

Christian Dimmer schaut in die künstliche Schönheit hinein, die ihn umgibt. «Tja, hm», sagt der deutsche Professor für Stadtforschung an der Waseda-Universität, als er eine Antwort sucht auf die Frage, wie er das Azabudai-Hills-Projekt findet.

Azabudai Hills ist das jüngste Riesenprodukt des japanischen Immobilienentwicklers Mori, ein Gebäudekomplex mit Garten, zu dem der derzeit höchste Wolkenkratzer Tokios gehört, der Mori JP Tower mit 325,2 Metern. Seit November 2023 ist dieses «Urban Village», wie Mori es nennt, in Betrieb, Touristen und Schaulustige flanieren durch das Stadtdorf mit seinen geschwungenen Säulenhallen, Luxusboutiquen und bepflanzten Betonstrukturen.

Dimmer sitzt am Fusse des Mori JP Tower auf der Terrasse am «Central Green», einer kleinen Rasenfläche mit Zierpflanzen, Bächlein und Skulpturen. «Wie finden wir das?» Er überlegt. «Wahrscheinlich nett, wahrscheinlich schön und grün. Aber ist das wirklich authentische Urbanität, die wir hier erleben?»

Ist Tokio Vorbild oder Mahnung?

Es muss sich was tun in den Städten des digitalen Zeitalters, denn Wachstum und Nachhaltigkeit brauchen ein neues Gleichgewicht. Mehr denn je ziehen die Städte alle an, die Karriere machen wollen, weil die ländlichen Räume ihrer Strukturschwäche und Überalterung angeblich rettungslos ausgeliefert sind.

Der Bedarf an erschwinglichem Wohnraum quält viele Stadtregierungen, wo die Ansprüche von Denkmal- und Umweltschutz auf die Interessen der Immobilienfirmen prallen. Gleichzeitig ächzt man in den Städten unter den Folgen des Klimawandels, weil sich deren versiegelte Landschaften stärker aufheizen als die unbebauten.

Illuminated neon signs in Shinjuku, Tokyo, Japan. Night view
The World's busiest pedestrian crossing

Die Stadt der Zukunft müsste also ein Wald mit Millionenbevölkerung sein. Eine Symbiose zwischen Grün, Grau und den Zwischentönen des urbanen Kulturerbes.

Aber wo sind die Ideen für diese neue Nachhaltigkeit? Vielleicht in Japan? Ist der Grossraum Tokio, das bevölkerungsreichste Metropolgebiet der Welt mit 37 Millionen Menschen, Beispiel für eine Wandlung zum Besseren? Oder doch eher eine Mahnung?

Erdbeben und andere Katastrophen prägten Tokios Geschichte

Das geordnete Bild vieler europäischer Städte mit Marktplatz, geschützten Altbauten, Abstandsregeln und Grünanlagen kann man in Tokio vergessen. Edo, wie Tokio bis 1868 hiess, war mal eine Siedlung im sumpfigen Flussgebiet des Sumida. Erdbeben und andere Katastrophen prägten die Stadtgeschichte. Und nach dem Zweiten Weltkrieg ging es im bergigen Inselstaat vor allem darum, auf wenig Fläche möglichst viele Menschen und Firmen möglichst sicher unterzubringen, um die Wirtschaft in Gang zu bringen.

Die Folge war eine ziemlich rücksichtslose Versteinerung des Stadtgebiets nach Regeln, die für Bauherren tendenziell immer laxer wurden. Urbane Lebensqualität war nicht so wichtig. Hauptsache, man war irgendwie drin in Tokio, die Immobilienpreise erreichten irre Höhen.

Hihg angle view of Tokyo city.

Anfang der Neunziger fiel diese sogenannte Bubble-Ökonomie in sich zusammen. Tokios Räume verkauften sich nicht mehr wie von selbst. Bei den grossen Grundstücksbesitzern begann ein Umdenken. Lebensqualität wurde wichtiger. Vorreiter war der Mischkonzern Mitsubishi, dem seit 1890 das Viertel Marunouchi zwischen Kaiserpalast und Hauptbahnhof gehört. Mitsubishi sanierte und baute so lange daran herum, bis es das war, was es heute ist.

Eine elegante Hochhauslandschaft mit weitem Bahnhofvorplatz, Einkaufsallee und renovierten Backsteinbauten. Andere Firmen zogen in anderen Stadtteilen nach.

Hochhauslandschaft mit weitem Bahnhofplatz, Einkaufsstrasse und Backsteinbauten: Marunouchi-Viertel.

Dieses «Wettrüsten um immer attraktivere Multifunktions-Nachbarschaften», wie Dimmer es nennt, geht bis heute weiter. Azabudai Hills gehört zu den jüngsten dieser Inseln, nachdem ihr Schöpfer Mori zuvor schon Hochhausanlagen wie Roppongi Hills oder Toranomon Hills erschaffen hatte – lauter öffentliche Paläste mit Garten, Geschäften, Luxushotels, Büros. Und der nächste Rekord-Wolkenkratzer ist schon im Bau: Der Torch Tower, der zweite Turm des Mitsubishi-Projekts Tokyo Torch in Marunouchi, soll 390 Meter hoch sein, wenn er 2027 fertig ist.

Mit zusammenhängender Stadtentwicklung hat das wenig zu tun, denn Japans Behörden reden Grundbesitzern nicht viel hinein. «Das Planungsregularium, das zum Beispiel den Kuhhandel von zusätzlicher Geschossfläche im Austausch für öffentlich zugängliche Freiflächen regelt, hat nur ein paar wenige Dutzend Seiten», sagt Christian Dimmer, «supereinfach.»

Das Stadtplanungsgesetz sieht zwar diverse Zonen für Wohnen, Handel und Industrie vor. Es gibt auch Pflichten, etwa zum Erdbeben- und Brandschutz, und Steuervergünstigungen, wenn der neue Komplex soziale Einrichtungen wie einen Kindergarten vorsieht. «Aber wie man das genau macht, liegt weitgehend im Ermessen der Entwickler», sagt Dimmer, «das ist der grosse Unterschied zu Europa. Dort entscheiden Regierungen: Wir brauchen mehr Stadtgrün. Dann wird eine Satzung erlassen oder ein Planungsinstrument geändert – und der Entwickler muss das anwenden.»

People visit Meiji Shrine Outer Garden as the ginkgo trees start changing to autumn colours, in Tokyo on November 12, 2023. (Photo by Philip FONG / AFP)

Schön für Japans Entwickler. Nicht unbedingt schön für Freunde von alten Quartieren mit Traditionsgeschäften und Parks, die mehr sind als ein grünes Alibi.

Für den Erhalt historischer Stätten kämpft auch Bestsellerautor Murakami

Christian Dimmer will Tokio nicht auf die Wolkenkratzer reduzieren. Denn dazwischen atmet der alte Stadtdschungel noch als verwinkelte, zusammengewürfelte Welt der Enge mit kleinen Läden, Schreinen und Strässchen. Zum Beispiel in Tsukiji, Yanaka, Koenji. «Das ist das Schöne an Tokio, dass es sich immer wieder dem Verständnis entzieht.»

People walk in the Tsukiji "outer fish market" area in Tokyo on December 30, 2022. (Photo by Philip FONG / AFP)

Und so viele Räume verstecken sich in diesem Dschungel, dass es in Tokio praktisch keine Wohnungsnot gibt. Klar, die Azabudai Hills sind zu teuer; für eine 46-Quadratmeter-Wohnung zahlt man dort monatlich 380’000 Yen, 2200 Franken. Aber es gibt noch ganz andere Preisklassen. Je weiter weg vom nächsten Bahnhof, desto billiger.

Trotzdem ist Tokio eine Betonwüste, in der zweistöckige Autobahnen durch starre Hochhausschluchten führen. «Wir brauchen mehr Grün», sagt Christian Dimmer. «Deshalb sind jetzt auch Leute wie Rochelle wichtig.»

Rochelle Kopp, Amerikanerin aus Chicago, ist die Gründerin der Unternehmensberatung Japan Intercultural Consulting und eine engagierte Kämpferin gegen das wohl umstrittenste Neubauprojekt Tokios. Der Immobilienentwickler Mitsui Fudosan will das Gebiet des Jingu Meiji Gaien in einen Sport- und Businesskomplex mit zwei Wolkenkratzern verwandeln. Unter anderem soll das fast 100 Jahre alte Meiji-Jingu-Baseballstadion weichen.

Der ursprüngliche Plan sah ausserdem vor, 743 von 1904 alten Bäumen zu fällen. Tokios Metropolregierung genehmigte ihn im Februar 2023. Die Grundstücke gehören unter anderem dem Meiji-Jingu-Schrein, also der Organisation, die in Shibuya eine der bekanntesten Kultstätten der japanischen Nationalreligion Shinto betreibt.

In this picture taken on February 12, 2023, people holds placards saying 'Save Jingu Gaien' during a protest against the Tokyo metropolitan government’s redevelopment project for the Meiji Jingu Gaien district in Tokyo. Meiji Jingu Stadium and neighbouring sports venues, including the home of Japanese rugby, will be bulldozed and rebuilt as part of a high-rise complex. (Photo by Yuichi YAMAZAKI / AFP)

Viele Shinto-Schreine und Buddha-Tempel haben auf ihren Grundstücken Wohnhäuser oder Hotels errichten lassen, um ihre Finanzen aufzubessern. Aber dass sogar die historische Anlage in Tokios Zentrum einem Hochhausprojekt weichen soll, geht vielen zu weit. Unter anderem protestierten die internationale Denkmalpflegeorganisation Icomos und Bestsellerautor Haruki Murakami. Rochelle Kopp gehört zu einem Aktivistennetzwerk, das gegen das Verschwinden von Parks kämpft. Ihr geht es vor allem um die Bäume als natürliche Luftreiniger und Hitzeschutz.

Bäume passen nicht zum japanischen Anspruch an Sauberkeit und Sicherheit

«Japan fehlen Gesetze, die existierendes Grün schützen», sagt sie, «und es fehlen Gesetze, die vorschreiben, dass ein bestimmter Anteil einer Fläche grün sein muss.» Die Folge: Tokio verliert immer mehr alte Bäume.

Die hohe Erbschaftssteuer verschärft das Problem. «Wer ein Haus mit altem Garten erbt, muss es verkaufen», sagt Kopp. Und dieses muss dann meistens einem einträglichen Wohnkomplex weichen, der den gesamten Platz bis zur Grundstücksgrenze einnimmt. Denn der Hunger der Immobilienentwickler nach Projekten ist nicht zu stillen. Japans Bevölkerung schrumpft, auch in Tokio stehen Hunderttausende Häuser leer, und der Klimawandel heizt die Betonwelt auf. Trotzdem wird gebaut, als wäre alles egal.

Wenn die Stadt der Zukunft ein Wald mit Millionenbevölkerung sein soll, dann ist Tokio keine Stadt der Zukunft. Bäume fehlen ganz oder sind ganz klein neben den Hochhäusern. Topfpflanzen und Fassadengrün sind Standards in Tokios Vegetation.

Bäume passen ja auch nicht gut zum japanischen Anspruch an Sauberkeit und Sicherheit. «Man müsste Blätter aufkehren, bei Sturm könnte ein Ast abbrechen und jemanden treffen», erklärt Dimmer.

In Wohngebieten fällt ihm noch etwas auf: «Fenster werden im Vergleich zur Wandfläche immer kleiner.» Das Haus wird zur Kapsel mit Internet in einer Welt, die ihre Bewohner gefährlich und reizlos finden.