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Wohnen in Tokio
Die Schönheit der Welt auf 19 Quadratmetern

Japan
19 Quadratmeter Schönheit
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Japan und der Wohnraum: Das ist ein grosses Thema. Der Archipel des Inselstaats liegt im Meer wie eine Kette von steilen Felszacken. Es gibt nicht viele Flächen, auf denen die Menschen siedeln können. Deshalb sind die Städte dicht bebaut – erst recht der Grossraum Tokio, das grösste Metropolgebiet der Welt mit rund 37 Millionen Menschen, und natürlich auch der Tokioter Bezirk Bunkyo, in dem die Hosakas vor fünf Jahren inmitten eines verwinkelten Häuserblocks eine Parzelle Land von 9,3 Tsubo Grösse erwarben.

Tsubo ist ein japanisches Flächenmass. Ein Tsubo entspricht 3,31 Quadratmetern, Architekten aus anderen Ländern würden möglicherweise nicht auf die Idee kommen, auf so wenig Platz ein ganzes Haus zu bauen. Zumal die Baufläche in Wirklichkeit noch kleiner ist, weil der Asphaltweg des Quartiers und ein Pflanzenbeet das Grundstück kreuzen.

Aber Takeshi Hosaka liebt die Herausforderung der Enge. Schon 2005 hatte er für sich und Megumi ein winziges Haus entworfen und bauen lassen. In Yokohama war das, auf 33 Quadratmetern.

Platz ist kostbar in Tokio und entsprechend teuer

Damals wollten sie raus aus ihrem gewöhnlichen Apartment in Yokohama. Sie sahen ein Grundstück für fünf Millionen Yen, nach heutigem Kurs knapp 28’840 Franken. Erschwinglich für die beiden – aber eben auch sehr klein und schmal. «Ich dachte, das ist unmöglich», sagt Megumi Hosaka, «aber er sagte: Das geht.» Takeshi Hosaka hatte auf dem Heimweg «schon eine Art Grundriss im Kopf».

Später zogen sie ein in ihr erstes kleines Haus, einen weissen, zweistöckigen Betonbau mit 38 Quadratmeter Wohnfläche, einer flachen, gewundenen Treppe und einem kurvig geschnittenen Flachdach, das nicht ganz geschlossen ist, sodass es sich im zweiten Stock bei offener Tür so anfühlt, als lebe man im Freien. Sie nannten das Haus Love House.

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Die Hosakas haben Plastikmodelle ihrer beiden Love-Häuser als Schlüsselanhänger. Wenn man sie nebeneinanderstellt, erkennt man den Unterschied. Das Love House sieht aus wie ein länglicher Kasten mit einer offenen, halbkreisförmig begrenzten Öffnung im Dach.

Das graue Love2 House ist etwas höher, aber hat nur einen Stock, dafür zwei steile Dachschrägen, die in unterschiedlicher Höhe aufeinander zulaufen und am Scheitel zwei halbkreisförmige Fenster einfassen.

Die Hosakas brauchten ein zweites Haus, weil Takeshi in Tokio an der Waseda-Universität dozierte und nicht mehr ständig von Yokohama aus pendeln wollte. Sie hatten Glück bei der Grundstückssuche. Platz ist kostbar in Tokio und entsprechend teuer. Aber den Grundbesitzer beeindruckte es, dass Takeshi sein Haus selbst bauen wollte. «Er hat uns einen Sonderpreis gemacht», sagt Megumi. «Er sagte damals, wir dürfen das nicht weitersagen, so billig war das.»

Noch 19 statt 38 Quadratmeter Wohnfläche

Takeshi Hosaka dachte erst an ein weiteres zweistöckiges Haus mit 19 Quadratmeter Grundfläche, aber dann brachte Megumi ihn auf eine andere Idee. Sie las damals ein Buch über die Lebensweise in der Edo-Zeit, jener Phase zwischen 1603 und 1868, in der Japan sich vom Rest der Welt fast vollständig abschottete.

In dem Buch waren auch die Nagaya beschrieben, Reihenhäuser mit winzigen Mietwohnungen. Vierköpfige Familien wohnten darin teilweise auf einer Fläche von 4,5 Tatami-Matten mit Doma, einem Eingangsbereich ohne Matten, auf insgesamt neun Quadratmetern also. «Ich sagte zu ihm, 19 Quadratmeter sind im Vergleich dazu ziemlich gross», erzählt Megumi. «Das war der Gedankenwechsel», sagt Takeshi.

Das Love2 House hat deshalb nur ein 19 Quadratmeter grosses Erdgeschoss, also halb so viel Wohnraum wie das erste Love House. Auf der länglichen Fläche liegen, vom grossen Schiebefenster aus gesehen, hintereinander aufgereiht und von halbhohen, dünnen Betonwänden getrennt, die Sitzecke, die Kochnische und das Bett. Am Ende des Raumes erreicht man durch eine Glastür die Terrasse, auf der man unter freiem Himmel duschen und baden kann.

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Megumi Hosaka (58) ist eine temperamentvolle Person. Sie lacht viel und kann lebendig erzählen. Eigentlich wirkt sie wie eine, die Platz braucht, um ihre Energie fliessen lassen zu können. Und in der Tat musste sie die Enge erst kennen lernen.

Aufgewachsen ist Megumi Hosaka in Shizuoka, 170 Kilometer südwestlich von Tokio nahe dem Nationalberg Fuji, in einem geräumigen Elternhaus. Zu dem Anwesen gehörte ein Tennisplatz, auf dem man 200 kleine Hosaka-Häuser hätte unterbringen können. «Ich dachte erst, dass man nicht das hat, was man braucht, wenn es zu klein ist», sagt Megumi. Takeshi überzeugte sie vom Gegenteil.

Takeshi Hosaka (48) ist ein dünner Mann mit leiser Stimme. Die Weite seiner Gedankenwelt ist ihm wichtiger als die Weite des Raumes, in dem er lebt. «Er sagte: Ob du 10, 100 oder 1000 Tsubo hast, ist eigentlich egal. Drumherum geht die Sonne auf und unter, es regnet, es schneit, die Wolken ziehen, die Vögel zwitschern», erzählt Megumi.

Das Licht fällt von oben in den Raum hinein

Er meinte: Wie gross der Platz zwischen vier Wänden auch sein mag – das ändert nichts an der Schönheit der Welt, in der diese Wände stehen. Man muss nur zusehen, dass man in diesen vier Wänden genug davon mitbekommt. «Alle möglichen Elemente sollen hineinkommen», sagt Takeshi Hosaka, «das ist mein Prinzip.» Deshalb bekam schon das Love House von Yokohama das Dach, das nicht ganz geschlossen ist.

Deshalb ist im Love2 House das Dach mit den beiden halbrunden Fenstern am Scheitel so konzipiert, dass das Licht von oben in den Raum einfallen kann. Deshalb gibt es auch eine Betonwanne auf der Terrasse, die nur bei Bedarf eine ausfaltbare Zeltplane vor den Blicken der Nachbarn schützt.

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Im Love2 House kann man das Gefühl bekommen, dass Sonne oder Mond ihre Strahlen direkt auf das Leben der Hosakas werfen. Wenn sie morgens aufwachen, schauen sie durch das Dach in den Himmel.

Und wenn sie bei schlechtem Wetter baden, hören sie das beruhigende Rauschen des Regens. Ihr kleines Haus mit seinem etwa sieben Meter hohen Gewölbe wirkt wie ein umgedrehter Trichter, der jeden Tag ein Naturerlebnis aus dem grauen, überhitzten Alltag der Riesenstadt herausfiltert.

«Man muss ein Haus mit Liebe füllen»: Das hat Megumi von Takeshi gelernt. «Deshalb habe ich damals in Yokohama zu Takeshi gesagt: Was du bauen möchtest, ist ein Liebeshaus.» So bekam das Haus auch seinen englischen Namen. Mit Licht und Liebe allein funktioniert allerdings auch das Leben der Hosakas nicht. Megumi hatte Wünsche, Takeshi auch.

Einrichtung gehört zum Fundament des Hauses

In der Enge sollte Platz sein für eine Waschmaschine, eine Küche mit grossem Kühlschrank, für Bücher, Kleidung, Wandschmuck, einen Schallplattenspieler und Takeshis 300 Vinylplatten. «Die Idee eines Hauses ist nicht, zu reduzieren», sagt Takeshi Hosaka, «alles ist da, und alles ist okay.»

In der Betonstruktur legte er Nischen nach Mass an, um zum Beispiel die Waschmaschine oder die Schallplatten in der Einrichtung aufgehen zu lassen. Vorsprünge dienen als Ablage. Über dem Bett ist ein Bücherregal in die Wand eingelassen. Bei der Sitzecke wurde eine Fliese mit Friedenstaube in den Beton gedrückt. Bilder und Christus-Kreuze haben die katholischen Hosakas an Schrauben aufgehängt, die in die Löcher der Bauplatten gedübelt wurden.

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Im Love2 House gehört die Einrichtung praktisch zum Fundament. Ausserdem ist der Bettkasten eine wichtige Ablage. Und Megumi kocht den Reis nicht in einem Reiskocher, der viel Platz in der Küche kosten würde, sondern im Tontopf. Denn Verzicht ist wichtig, wenn das winzige Haus nicht zu voll werden soll. «Wir haben viel weniger Sachen als andere Menschen», sagt Takeshi, «besonders ich habe wenig.» Megumi ergänzt: «Als wir zusammengezogen sind, hatte er seine ganzen Sachen in zwei Müllsäcken.» Sie lacht. Er lächelt.

Sie wirken wie ein Paar, das zusammengekommen ist, um sich zu ergänzen. Ihm scheint ihr Temperament und ihr seine Ruhe nie auf die Nerven zu gehen. Dieses natürliche Einverständnis ist wohl auch eine Voraussetzung für ihr gemeinsames Leben im winzigen Haus. Denn wenn es Streit gibt, kann man hier nicht so einfach eine Tür hinter sich zuschlagen. Wie läuft zum Beispiel ein Sonntag, wenn man zusammen zu Hause ist? «Er arbeitet normalerweise in der Sitzecke bis vier Uhr früh», sagt Megumi, «aber das funktioniert wirklich gut.»

«Ich kann hier alles besser sehen», sagt Megumi

Vom Licht im vorderen Teil des Raumes bekommt man im Bett im hinteren Teil nichts mit. Und weil sie aufsteht, wenn er noch schläft, hat sie am Morgen die Sitzecke für sich allein zum Lesen oder Arbeiten. Später kocht sie Frühstück. Wenn Takeshi wach ist, essen sie zusammen. Die gläserne Schiebetür ist dabei meistens offen. Nachbarn und Passanten kommen vorbei, grüssen, plaudern.

«Viele fragen, warum wir in so einem winzigen Haus wohnen», sagt Megumi Hosaka. Mit seiner Sitzecke an der Fensterfront ist das kleine Haus der Hosakas mitten in Tokios anonymem Gebäudemeer auch ein Ort der Begegnung und des Austauschs geworden. Aber der Hauptgrund dafür, dass Megumi Hosaka das Love2 House so gern mag, ist ein anderer. «Ich kann hier alles besser sehen», sagt sie, «meine Sachen, aber auch ihn.» Sie schaut zu Takeshi hinüber.

Sie mag es, in der Küche zu werkeln, während er an Entwürfen oder anderen Aufgaben arbeitet. Sie beobachtet dann, wie er mit seinen Gedanken ringt. In einem anderen Haus würde er wahrscheinlich in seinem Arbeitszimmer sein, hinter einer verschlossenen Tür. Im Love2 House kann Megumi erleben, wie Takeshi neue Ideen entwickelt. «Ganz aus der Nähe.» Megumi Hosaka lächelt selig und sagt: «Die Enge macht es möglich.»