Arbeiten im AlterJapan setzt auf die Kraft seiner Senioren
Mit 77 Jahren Türen reparieren – warum nicht? So bessern Japaner ihre Rente auf, und zugleich bekämpft das überalterte Land den Arbeitskräftemangel. Besuch in einem Zentrum für «silbernes Humankapital».
![epa05547470 Elderly and middle-aged people practice physical activity with wooden dumbbells during an event marking the 'Respect-for-the-Aged' Day in Tokyo, Japan, 19 September 2016. According to government data released on 13 September, the number of Japanese people aged 100 or older reached a record figure of 65,692 in September, with nearly 88 per cent of the centenarians being women. EPA/FRANCK ROBICHON](https://cdn.unitycms.io/images/7Kp-2sbSq4-9x9fh160DZh.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=rJylB7n3Bc8)
Von seinem japanischen Seniorenleben erzählt der frühere Kaufmann Kimio Arakawa aus Tottori mit einem Lächeln im hohlwangigen Gesicht. Er spricht in kurzen Sätzen, spart sich Details und kritische Untertöne. Er lässt nur ein paar Stichwörter fallen, aus denen man schliessen kann, dass für ihn nicht immer alles rosig war nach seiner Zeit als Angestellter einer Grosshandelsfirma. Ausstieg mit 60, schmale Rente, Jobsuche. Arakawa sagt, er habe zeitweise Nachtschichten in einer Fabrik für Innentöpfe von Reiskochern übernommen, um seine Frau und sich durchzubringen.
Heute ist Kimio Arakawa 77, Witwer – und er arbeitet immer noch. Er steht zwischen Holzrahmen und Papierrollen in der Werkstatt des städtischen «Zentrums für silberne Humanressourcen». Mit zwei anderen älteren Leuten repariert er hier Schiebetüren für Privathäuser. Aber das müsse er nicht mehr wegen des Geldes machen, sagt Arakawa. Er bekommt hier etwas anderes, das ihm im Alter wichtig ist: «Ich habe Beziehungen zu Menschen.»
![Kimio Arakawa, links im Bild, 77. Er steht zwischen Holzrahmen und Papierrollen in der Werkstatt des städtischen „Zentrums für silberne Humanressourcen“. Mit zwei anderen älteren Leuten repariert er hier Schiebetüren für Privathäuser.](https://cdn.unitycms.io/images/0GykCJ7tqPv91B-r01bM51.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=gCX1371kBTI)
Fast jede Stadt im Inselstaat hat ein sogenanntes Zentrum für silbernes Humankapital. Als von Rathaus und Staat bezuschusste Non-Profit-Körperschaft verschaffen diese Zentren Menschen über 60 Fortbildungen und Jobs. «Seit 13 oder 15 Jahren» sei er bei Tottoris Silber-Zentrum, sagt Arakawa und zeigt stolz seine Mitgliedsmarke, die er an der fleckigen Handwerkerschürze trägt: Nummer 2674. «Die meisten haben ein Namensschild mit 4000er-Nummern.» Er ist froh, dass er hier immer noch eine Aufgabe hat, die ihn aus seinen eigenen vier Wänden holt.
Viele Japaner brauchen Arbeit, weil die Rente nicht reicht
Japan und seine Alten – das ist ein grosses Thema. In kaum einem Land ist die Lebenserwartung so hoch wie im Inselstaat. Das spricht für das nationale Gesundheitssystem, für die traditionell ausgewogene Ernährung und für die umfassende Vorsorgepraxis. Die Achtung vor dem Alter ist ausserdem Teil der japanischen Kultur. Kein Jugendwahn drängt die Ergrauten hier an den Rand der Gesellschaft. Aber es gibt auch ein Problem: Die Geburtenrate sinkt seit Jahren, das Verhältnis von Jung und Alt verschiebt sich, der Arbeitsmarkt gerät unter Druck. Nachwuchs ist immer schwieriger zu finden, Stellen bleiben unbesetzt – Japan kann es sich kaum noch leisten, Senioren leichtfertig in den Ruhestand zu schicken.
2013 hob die konservative Regierung das Rentenalter von 60 auf 65 Jahre an. Mittlerweile sind Unternehmen gesetzlich verpflichtet, sich darum zu bemühen, Mitarbeiter bis 70 zu beschäftigen, wenn diese das wollen – und bald wird diese Verpflichtung wohl auch auf Mitarbeiter bis 75 ausgeweitet werden. Viele Seniorinnen und Senioren wiederum brauchen Arbeit, weil ihre Rente nicht reicht – wie Kimio Arakawa in den ersten Jahren nach dem Aus in der Firma. Vor allem wer im Berufsleben selbstständig war und den eigenen Kindern nicht zur Last fallen will, hat fast keine Wahl, als irgendwie weiterzumachen.
![GIFU, JAPAN - MAY 16, 2016: An unidentified old japanese man cleaning the road in Shirakawa-go. Shirakawa-go (Shirakawa Village) is the world heritage village.](https://cdn.unitycms.io/images/0vyaVrd-K-z9fZQrkwJE4X.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=p-sew9f0ql8)
Sozialpolitiker in Europa können das nicht vorbildlich finden. Der sichere Ruhestand nach einem langen Arbeitsleben ist für sie ein Gebot gesellschaftlicher Fairness. Allerdings verbinden viele in Japan mit der Arbeit nicht nur die Mühsal, die man zum Überleben auf sich nimmt. Sondern auch Teilhabe, Anerkennung, Stolz. Selbst wenn es um vermeintlich einfache Tätigkeiten geht wie das Sauberhalten einer Strasse.
Gerade Japans Silber-Zentren verstehen sich als Anlaufstellen für Betagte, die sich noch zu fit fühlen, um zu Hause zu bleiben. Deshalb nennen die Zentren sie auch nicht graues, sondern silbernes Humankapital: Silber ist ein Edelmetall, das zwar nicht Gold ist, aber auch glänzt.
Vor vier Jahren hatte Tottori noch 20’000 Einwohner mehr
Büroleiter Masahiro Yamamoto hat Antworten vorbereitet für das Gespräch in einem Seminarraum des Silber-Zentrums in der ruhigen City von Tottori, der Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur. Diese liegt im Süden der Hauptinsel Honshu etwas abgeschieden zwischen Bergen und Meer.
530’000 Menschen leben dort, so wenige wie in keiner anderen Präfektur Japans. Und es werden immer weniger; nach Daten des nationalen Statistikamtes hatte Tottori 2020 noch 20’000 Menschen mehr. Yamamoto findet, dass man den demografischen Wandel hier besonders deutlich spürt. «Die Gruppen der Kinder, die zur Schule gehen, sind kleiner geworden.» Er selbst ist 70. Es sei ein Wunsch der Stadt gewesen, dass er weitermache.
![Masahiro Yamamoto](https://cdn.unitycms.io/images/2XN_5mk9qUuAlU-Avtx_nC.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=0WcQ0L3SQSM)
Es gibt ausserdem lokale Sondereinsatzgebiete. Masahiro Yamamoto bittet in den fünften Stock eines Nachbargebäudes, um eines zu zeigen. In einem Raum sitzen dort vier Seniorinnen und ein Senior bei konzentrierter Bastelarbeit. Sie bessern die bunten Papierschirme aus, die jeden Sommer bei der Tanzparade des traditionellen Shan-Shan-Festes zum Einsatz kommen.
Ihre Arbeitstätigkeiten lernen die Mitglieder bei Schulungen im Silber-Zentrum. Gerade Gärtner werden oft von Privatleuten oder Firmen gebucht. Die Auftraggeber bezahlen das Silber-Zentrum für die Vermittlung, das Silber-Zentrum bezahlt den Lohn der gebuchten Mitglieder. Der Mindestlohn in Tottori beträgt 900 Yen pro Stunde, 5.30 Franken. «Aber wir bezahlen bis zu 1300 Yen», sagt Masahiro Yamamoto. 7.70 Franken – auch nicht die Welt.
Fachhändler fürchten die Konkurrenz nicht
Die Schiebetür-Werkstatt, in der Kimio Arakawa jede zweite Woche für drei Tage arbeitet, ist eine Art Tochterbetrieb des Silber-Zentrums. Wer seine Schiebetür für einen günstigen Preis reparieren lassen will, kann sie von den Mitgliedern des Zentrums abholen lassen.
Gibt das nicht Ärger mit den teureren Fachgeschäften? Im Gegenteil, sagt Masahiro Yamamoto, diese seien ohnehin überlastet. Auch die Schiebetür-Branche spürt den Mangel an Nachwuchs, und die Alten erledigen die Arbeit fast genauso gut, davon kann man sich in der Werkstatt überzeugen. Arakawa und die anderen beiden im Team, Satomi Dei (61) und Sadami Kobayashi (77) schleifen gewissenhaft die Holzrahmen ab, kleben das lichtdurchlässige Shoji-Papier auf und schneiden am Lineal entlang die überstehenden Ränder ab.
![In einem Raum sitzen dort vier Seniorinnen und ein Senior bei konzentrierter Bastelarbeit. Sie bessern die bunten Papierschirme aus, die jeden Sommer bei der Tanzparade des traditionellen Shan-Shan-Festes zum Einsatz kommen.](https://cdn.unitycms.io/images/9rFQLHUNqErBih7AHw7I4_.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=U5cSSWpsrH0)
Japan kann sich auf seine Senioren verlassen. Zwar sind nicht alle einverstanden mit dem Anspruch des Staates, dass Alte länger arbeiten sollen. «Es gab schon Widerstand», sagt Masahiro Yamamoto, «aber nicht so viel, dass man das eine Bewegung nennen könnte.»
Trotzdem sieht er ein Problem: 663 Mitglieder hat das Silber-Zentrum in Tottori, das reicht nicht für den Bedarf an Arbeitskräften. «Wir brauchen mehr Senioren», sagt Masahiro Yamamoto. Im Inselstaat mit seiner schrumpfenden Bevölkerung gibt es auch bei den Alten ein Nachwuchsproblem.
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