Überraschende GrossoffensiveDschihadisten erobern Flughafen von Aleppo und Orte in Idlib und Hama
Die syrische Regierung von Präsident Bashar al-Assad gerät im Nordwesten des Landes überraschend in die Defensive. Wendet sich das Blatt nun im Bürgerkrieg?
Dschihadistische Kämpfer in Syrien haben bei ihrem Vorrücken im Nordwesten des Landes Aktivistenangaben zufolge die Hälfte der Stadt Aleppo erobert. «Die Hälfte der Stadt Aleppo ist jetzt unter der Kontrolle von Hajat Tahrir al-Scham und verbündeten Gruppen», sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, der Nachrichtenagentur AFP am Samstag. Die syrischen Regierungstruppen leisteten demnach keinen wesentlichen Widerstand.
«Als die Regimekräfte sich zurückzogen, gab es keine Kämpfe, nicht ein einziger Schuss ist gefallen», fügte Rahman hinzu. Im Stadtteil Neu-Aleppo kam es zu Kämpfen, wie ein AFP-Reporter vor Ort berichtete.
Aleppo wurde dabei erstmals seit 2016 von russischen Luftangriffen getroffen. Russische Kampfflugzeuge hätten in der Nacht Angriffe geflogen, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
Kurdische Milizen nutzen Machtvakuum
Die Kontrolle über den Flughafen Aleppos wurde von kurdischen Milizen übernommen. Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte, rückten kurdische Kämpfer nach Abzug regierungstreuer Truppen in mehrere Dörfer und Vororte im Norden und Osten der Stadt ein und besetzten den Flughafen. Zehntausende Menschen seien infolge der Entwicklungen auf der Flucht, hiess es in der Mitteilung.
Die kurdischen Milizen gehören nicht zur islamistischen Rebellenallianz, scheinen nun aber teilweise das durch den Rückzug regimetreuer Truppen entstehende Machtvakuum auszufüllen. Der Vormarsch der Kurden dürfte vor allem von der Türkei und mit ihr verbündeten Milizen in Syrien mit Sorge betrachtet werden.
Gefechtslärm und Explosionen
Die Allianz von Aufständischen hatte in dieser Woche bei einer Offensive im Nordwesten des Landes überraschend grosse Gebietsgewinne verzeichnet. Die Regierungstruppen und ihre Verbündeten gerieten im Umland der Städte Idlib und Aleppo unter Druck.
Am Freitag erreichten die Gefechte den Stadtrand der Millionenmetropole Aleppo. Augenzeugen zufolge waren in der Stadt Gefechtslärm und Explosionen zu hören. Im westlichen Teil der Stadt wurden Rebellen auf Fahrzeugen beobachtet. Die syrische Staatsagentur Sana meldete, es habe Festnahmen von Terroristen gegeben, die sich in Aleppo gefilmt hätten, um den Eindruck zu erwecken, sie seien in Kontrolle.
Videos, die auf sozialen Medien kursierten, und angeblich Rebellen in verschiedenen Teilen der Stadt und öffentlichen Gebäuden zeigten, zeichneten jedoch ein anderes Bild. Nach Augenzeugenberichten verliessen die Regierungstruppen teilweise ihre Stellungen.
Berichten zufolge zieht die Regierung Truppen im Osten der Stadt für einen Gegenschlag zusammen. Sollte Aleppo dauerhaft an die Aufständischen fallen, wäre das ein herber Schlag für Präsident Baschar al-Assad, der seine Macht mit Hilfe russischer und iranischer Unterstützung in den vergangenen Jahren wieder festigen konnte.
Tausende Menschen bereits auf der Flucht
HTS-Anführer Abu Mohammed al-Jolani wies seine Kämpfer einer Mitteilung zufolge an, keine Zerstörung in der Stadt anzurichten und Zivilisten keinen Schaden zuzufügen. Nach Angaben eines dpa-Reporters vor Ort sind bereits Tausende Menschen auf der Flucht in ländliche Gebiete oder andere Städte. Die Rebellenallianz verhängte nach eigenen Angaben eine Ausgangssperre in der Stadt bis 8 Uhr morgens am Samstag.
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Über 50 Dörfer eingenommen
Die Aufständischen hatten sich seit Tagen Aleppo genähert. Nach Angaben des syrischen Militärs wird die Offensive von der Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) angeführt, die einen Grossteil des Nordwestens von Syrien kontrolliert. Die Gruppe war früher als Nusra-Front bekannt, dem syrischen Ableger der Terrorgruppe Al-Kaida. Seither hat sie ihren Namen mehrmals geändert und sich von Al-Kaida distanziert.
Sie sollen nach Angaben von Aktivisten dutzende Städte und Dörfer im von der Regierung kontrollierten Norden und Nordwesten Syriens erobert haben. «Mehr als 50 Dörfer und Städte in den Regionen Aleppo und Idlib stehen nun unter der Kontrolle von Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und verbündeter Fraktionen», erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Freitag. Zuvor hatten die Jihadisten in der Nähe von Aleppo eine überraschende Grossoffensive gestartet.
UNO: Tausende im Nordwesten Syriens vor Gefechten geflüchtet
Wegen intensiver Gefechte im Nordwesten Syriens sind nach Angaben der Vereinten Nationen seit Mittwoch rund 14’000 Menschen in der Umgebung von Idlib und westlich von Aleppo vertrieben worden.
Die Lage verschlechtere sich insbesondere für die Zivilbevölkerung, sagte David Carden, stellvertretender regionaler UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in Syrien, der Deutschen Presse-Agentur. «Wir erhalten Berichte über Kinder mit mehreren Verletzungen durch Schrapnell», sagte er.
Es sind die schwersten Gefechte seit Jahren zwischen islamistischen Rebellen und Regierungstruppen im Nordwesten Syriens. Nach Angaben der syrischen Staatsagentur Sana und der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden bei einem jüngsten Angriff islamistischer Kämpfer auf einen Universitätscampus in Aleppo am Freitag vier Menschen getötet. Die Opfer sollen demnach Studenten sein. Die Rebellen wiesen diese Behauptung zurück.
Die Gefechte hatten am Mittwoch begonnen, nachdem eine Allianz islamistischer Rebellen nach eigenen Angaben eine Offensive mit dem Titel «Abschreckung der Aggressionen» gestartet hatte. Es sei eine Reaktion auf vorigen Artilleriebeschuss der syrischen Regierung auf zivile Ziele gewesen, berichtete die Beobachtungsstelle.
Bereits mehr als 240 Tote
Seit Mittwoch wurden nach Angaben von Aktivisten bereits mindestens 242 Menschen getötet. Darunter seien 24 Zivilisten, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Grossbritannien mit. Die Angaben liessen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Als Reaktion auf die Offensive habe die syrische Armee seither mit Unterstützung russischer Kampfjets mehr als 60 Ziele in Idlib und im Umland von Aleppo angegriffen.
Der verheerende Bürgerkrieg in Syrien hat das Land völlig gespalten. Machthaber Baschar Al-Assad geriet zeitweise schwer unter Druck, kontrolliert mit Hilfe seiner Verbündeten Russland und Iran inzwischen aber wieder zwei Drittel des Landes. Der Nordwesten ist teilweise unter Kontrolle von Oppositionskräften. Eine politische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht.
AFP/DPA/sme/fal
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