Soziale SicherheitWarum müssen manche Menschen mit einem tieferen Existenzminimum leben als andere?
Zur Berechnung des Existenzminimums gibt es verschiedene Verfahren. Die Unterschiede sowie die Folgen für die Betroffenen sind beträchtlich. Warum das so ist und zu welchen Problemen das führt.
Mit dem Minimum ist eigentlich der tiefstmögliche Punkt erreicht. Das gilt jedoch nicht fürs Existenzminimum: Je nach Verfahren kann das finanzielle Existenzminimum in der Schweiz deutlich tiefer oder auch höher liegen. Dazu folgende drei Beispiele:
Ergänzungsleistungen: Wenn die AHV- oder IV-Rente nicht ausreicht, um die minimalen Lebenskosten zu decken, erhalten Betroffene Ergänzungsleistungen. Der Grundbedarf umfasst unter anderem Nahrungsmittel, Kleider, Energieverbrauch, Verkehrsmittel und Kommunikation. Nicht zum Grundbedarf zählen Miete und Krankenkasse, die separat abgerechnet werden. Dieser Grundbedarf ist das Existenzminimum, das bedürftigen Personen zugestanden wird. Bei Ergänzungsleistungen liegt es bei maximal 1675 Franken pro Monat für eine Einzelperson.
Betreibungsrecht: Gläubiger können Betreibungen einleiten und allenfalls den Lohn einer Schuldnerin oder eines Schuldners pfänden lassen. Gemäss den für Kantone nicht verbindlichen Richtlinien der Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten liegt der Mindestbedarf bei monatlich 1200 Franken. Hinzu kommen anerkannte Auslagen wie für die berufliche Tätigkeit. Die zuständige Fachperson des Betreibungsamts hat bei der Bestimmung des Bedarfs einen grösseren Ermessensspielraum.
Sozialhilfe: Noch tiefer liegt das Existenzminimum für Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Gemäss Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) haben sie Anspruch auf einen Grundbedarf von bis zu 1031 Franken je Monat.
Mit der Asylsozialhilfe gibt es eine Unterkategorie, die sogar noch einmal rund ein Drittel – manchmal sogar bis zur Hälfte – unter dem Existenzminimum der Sozialhilfe liegt. Da gibt es Unterschiede je nach Wohnsitz oder Aufenthaltsstatus. Klar ist: Die Betroffenen erhalten also als Existenzminimum einen Grundbedarf, der nicht einmal annähernd jenem der Ergänzungsleistungen entspricht.
Sogar noch deutlicher sind die Unterschiede, wenn man die Mietkosten berücksichtigt. Diese werden zwar separat zum Grundbedarf abgerechnet. Doch Sozialhilfebezüger dürfen für die Wohnung nicht so viel Geld ausgeben wie Personen, die Ergänzungsleistungen erhalten. So liege die Obergrenze für Mietkosten je nach Gemeinde ungefähr zwischen 600 und 1100 Franken, sagt Tobias Hobi, Anwalt bei der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht. Bei Ergänzungsleistungen liegt die Grenze je nach Region zwischen 1295 und 1465 Franken.
Das Problem verschärft sich für Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger, weil oft nicht ausreichend günstige Wohnungen verfügbar sind. Das führt dazu, dass Betroffenen von ihrem ohnehin schon knapp bemessenen Geld noch weniger übrig bleibt. Gemäss dem Rechercheprojekt «mietlimite.ch», an dem der Tages-Anzeiger beteiligt ist, wohnen je nach Gemeinde jeder fünfte bis fast jeder zweite Sozialhilfebezüger in einer zu teuren Wohnung. Laut Hobi müssen viele Betroffene die Mietzinsdifferenz aus dem Grundbedarf bezahlen.
Die Gründe für die Unterschiede
Das Existenzminimum soll zwar keinen Luxus, aber doch ein würdevolles Leben mit sozialer Teilhabe und Integration ermöglichen. Das lässt sich aus der Bundesverfassung ableiten, wie Pascal Coullery, Dozent für Sozialrecht an der Berner Fachhochschule, 2018 in einem Rechtsgutachten zuhanden der Skos festgestellt hat.
Dass es trotz dieser einheitlichen Definition grosse Unterschiede beim Existenzminimum gibt, lässt sich laut Coullery nur teilweise triftig begründen. Er verweist darauf, dass bei Ergänzungsleistungen mehr Ausgaben über den Grundbedarf gedeckt werden müssen als bei der Sozialhilfe, die vermehrt Leistungen für spezifische Situationen vorsieht. Doch beispielsweise im Kanton Bern erkläre dies zwischen Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe nur einen Unterschied von gut 5 Prozent der Kosten. Zum Vergleich: Bezüger von Ergänzungsleistungen erhalten schweizweit einen etwa 60 Prozent höheren Grundbedarf.
Für den grössten Teil dieser Unterschiede gibt es politische Gründe. Dabei kommt es bei der Sozialhilfe zu Abstrichen. Coullery erklärt das mit der unterschiedlichen Ausgangslage der Betroffenen: «Unterschwellig geht es um folgenden Gedanken: Wer eine IV- oder AHV-Rente bezieht, hat gearbeitet, Lohnbeiträge bezahlt und bessere Leistungen verdient – bei der Sozialhilfe sucht die Politik die Schuld eher bei den Betroffenen und erhöht den finanziellen Druck.»
Die Sozialhilfe soll also eine gewisse Abschreckungswirkung haben. Diese hat sich laut Anwalt Tobias Hobi in den vergangenen Jahren verschärft: So wurde die Sozialhilfe ursprünglich am Durchschnitt der untersten 20 Prozent aller Einkommen berechnet. Darauf folgten die untersten 10 Prozent als Messgrösse. Inzwischen ist auch diese weggefallen. Bemerkenswert ist zudem auch die Veränderung im Vergleich zum betreibungsrechtlichen Existenzminimum: Dieses lag in der Vergangenheit unter jenem der Sozialhilfe. Ursprünglich wurden also erwerbstätige Schuldner härter angepackt als Sozialhilfebezüger.
Kürzungen beim Existenzminimum der Sozialhilfe haben teilweise kontraproduktive Folgen. Da existenzielle Leistungen wie Geld für Nahrungsmittel unerlässlich sind, wird bei der Teilhabe am sozialen Leben und bei der Integration gekürzt.
Bei Asylsuchenden, welche die Schweiz rasch wieder verlassen, mag das Sinn ergeben. Doch es gibt viele vorläufig aufgenommene Personen, die längerfristig oder sogar für immer in der Schweiz bleiben. Von diesen wird erwartet, dass sie sich gut integrieren, doch die finanziellen Mittel dafür werden ihnen vorenthalten. Besonders hart trifft es Asylsuchende mit Kindern. So können Kinder zum Beispiel nicht in einem Sportverein mitmachen, weil die Familie Ausrüstung und Mitgliederbeiträge nicht bezahlen kann. Die Skos hat das 2022 in einem Positionspapier kritisiert. Die tieferen Ansätze lassen sich aus ihrer Sicht bei dieser Zielgruppe nicht rechtfertigen.
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