Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Lotterie bei zweiter Säule
Wer in der falschen Gemeinde wohnt, kann seine Altersvorsorge verlieren

Je nach Gemeinde hat der Gang aufs Sozialamt unterschiedliche Folgen: Viele verlangen, dass Betroffene ihre zweite Säule schon ab 60 Jahren beziehen.

Franziska Müller (Name geändert) wurde erst im Nachhinein bewusst, was sie unterzeichnet hatte. Sie befindet sich in einer finanziellen Notlage und ist gesundheitlich angeschlagen, als sie wegen der Sozialhilfe den Kontakt zur Gemeindeverwaltung sucht. Dort erhält sie eine grosse Menge an Informationen. «Ich musste sehr viel unterschreiben – ich dachte, wenn die Gemeinde das sagt, wird das schon seine Richtigkeit haben.»

Nichtsahnend unterzeichnet sie Abtretungsurkunden, womit sie ihr Alterssparguthaben von rund 200’000 Franken mit sofortiger Wirkung und in vollem Umfang zur Deckung bezogener Sozialhilfe an die Gemeinde abtritt.

Es geht um Geld aus der beruflichen Vorsorge, das für den Lebensunterhalt im Alter vorgesehen war. Die Gemeinde will es mit Sozialhilfeleistungen verrechnen. Wie Franziska Müller als Rentnerin ihren Lebensunterhalt finanziert, ist der Gemeinde egal. Inzwischen geht sie mit Unterstützung der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) rechtlich gegen die Gemeinde vor.

OECD kritisiert Schweizer Praxis

Diese Praxis ist keine Ausnahme, sondern vielerorts üblich. Der Grund dafür ist, dass die Sozialhilfe in der Schweiz als Schuld betrachtet wird. Deshalb hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das Schweizer System auch schon als nicht zeitgemäss kritisiert («archaic features»). Denn viele europäische Länder handhaben das anders. So muss etwa in Deutschland die Sozialhilfe nicht zurückerstattet werden.  

Bemerkenswert ist zudem, dass es von Kanton zu Kanton und sogar von Gemeinde zu Gemeinde grosse Unterschiede gibt. Das hat auch Franziska Müller erlebt: Nach ihrem Umzug kam es zu einer Kehrtwende: «Die neue Wohngemeinde hat mich viel freundlicher behandelt.» Und der zuständige Sozialarbeiter verzichtete am Ende darauf, das Vorsorgeguthaben einzuziehen. 

Lotterie: Der Wohnort entscheidet

Für Sozialhilfebezüger ist es also je nach Wohnort Glückssache, ob sie ihre Guthaben aus der zweiten Säule zur Sicherung ihrer Altersrente verwenden dürfen oder nicht. Vereinfacht gibt es in der Praxis folgende drei Varianten: 

  1. Die Gemeinde überlässt das Freizügigkeitsguthaben aus der zweiten Säule der Person, die Sozialleistungen bezogen hat. Diese kann das Sparkapital auch als Rente beziehen.

  2. Die Gemeinde verlangt einen Vorbezug der zweiten Säule schon vor dem AHV-Rentenalter (in der Regel ab 60 Jahren). Dann wird die Sozialhilfe eingestellt und die betroffene Person muss ihren Lebensunterhalt aus dem vorbezogenen Alterssparguthaben bestreiten. So bleibt davon beim Eintritt ins ordentliche Rentenalter meist nichts mehr übrig.

  3. Die Gemeinde setzt durch, dass das Kapital aus der zweiten Säule nicht nur frühzeitig ausbezahlt, sondern auch gleich für die Rückerstattung bereits bezogener Sozialhilfeleistungen verwendet wird. So bleibt für die betroffene Person nur noch ein Teil des Alterssparguthabens übrig – oder im schlimmsten Fall gar nichts. Manchmal wird die Rückerstattung auch ohne Vorbezug verlangt.

Das hat eine gewisse sozialpolitische Brisanz. So stellt sich unter anderem die Frage, wie weit es für Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, in dieser Frage überhaupt Rechtssicherheit gibt. In einer bisher noch nicht veröffentlichten Studie untersucht die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) diese Unterschiede. Die empirische Studie besteht einerseits aus einer Erhebung und andererseits aus einer qualitativen Studie, die zeigt, wie Sozialdienste Fallbeispiele in der Praxis umsetzen. Berücksichtigt wurden die Kantone Aargau, St. Gallen, Thurgau, Schaffhausen und Zürich. An der Erhebung haben 190 Gemeinden teilgenommen. Die aufwendige qualitative Auswertung wurde bisher mit 26 verschiedenen Sozialdiensten durchgeführt.

Die Ergebnisse einer Studie bestätigen, dass es mit der Rechtssicherheit nicht weit her ist.

Die beiden Studien-Autoren Christophe Roulin und Benedikt Hassler haben dieser Zeitung vorab erste Resultate zur Verfügung gestellt. Die Ergebnisse bestätigen, dass es mit der Rechtssicherheit nicht weit her ist. So haben sich nicht nur grosse Unterschiede je nach Gemeinde bestätigt, sondern sogar nach der zuständigen Person. So stellte ein Sozialdienstleiter klar, dass er ganz anders mit dem Thema umgehe als seine Vorgängerin. Im Gegensatz zu ihr stütze er sich jetzt auf die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). 

Das klingt nach Willkür. Doch Anwalt Tobias Hobi, der für die UFS in solchen Fällen Betroffene vertritt, relativiert: «Oft ist es auch nur Unwissen – vorwiegend in kleinen Gemeinden mit wenigen Sozialhilfebezügern sind die zuständigen Fachpersonen gelegentlich überfordert und treffen falsche Entscheide.» So womöglich im Kanton Zürich, wo es zwar klare Vorgaben gebe, die aber gelegentlich nicht eingehalten würden. Hobi verweist auch auf Thurgau und St. Gallen, wo «es fast keine kantonalen Vorgaben gibt». Da sei der Ermessensspielraum im Umgang mit der Sozialhilfe «riesig». 

Massgeblich ist die Frage, ob eine Gemeinde verlangt, schon vor der frühestmöglichen AHV-Rente Geld zu beziehen. Diese Frage bejahten in der Studie im Kanton St. Gallen rund 84 Prozent der Gemeinden und im Thurgau 78 Prozent. In den Kantonen Zürich (24 Prozent) und Aargau (46) ergab die Umfrage deutlich tiefere Werte. Im Kanton Schaffhausen ist eine Aussage aufgrund tiefer Fallzahlen schwierig. Bei Vorsorgeeinrichtungen ist ein Vorbezug oft ab 58 Jahren möglich. Bei einer Freizügigkeitseinrichtung frühestens fünf Jahre vor dem ordentlichen AHV-Rentenalter.

In der Romandie dürften die Zahlen tiefer ausfallen. Das lässt sich aus einem Monitoring der Skos ableiten. Demnach handhaben Westschweizer Gemeinden den Vorbezug aus der zweiten Säule wesentlich zurückhaltender. Der Kanton Genf hält sogar gesetzlich fest, dass Sozialhilfe grundsätzlich nicht zurückerstattet werden muss. 

Erstaunliche grosse Unterschiede

Erstaunlich ist, wie unterschiedlich die Gemeinden das umsetzen. Wie die qualitative Untersuchung der FHNW zeigt, verlangen mehrere Gemeinden die Abtretung grosser Summen. Eine Gemeinde vereinbart hingegen nur freiwillige monatliche Rückzahlungen von 50 Franken. Eine andere Gemeinde weist Sozialhilfebezüger im Alter von 59 Jahren schriftlich auf die Konsequenzen eines Vorbezugs hin. Wann die Pensionierung erfolgt, bleibt aber den Betroffenen überlassen. Eine weitere Gemeinde lehnt schon den Antrag eines 58-Jährigen auf Sozialhilfe ab, wenn er in der zweiten Säule Geld angespart hat. Andere Gemeinden räumen schliesslich ein, dass sie in solchen Fragen unsicher sind. 

Aufgrund der erwähnten kantonalen Unterschiede ist eine allgemeingültige rechtliche Einordnung nicht möglich. Auf nationaler Ebene sind die Skos-Richtlinien eine wichtige Orientierungshilfe. Zwölf Kantone haben diese auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe umgesetzt. Gemäss den Richtlinien dürfen Gemeinde keine Rückerstattung aus der zweiten Säule verlangen, um bezogene Sozialhilfeleistungen zu begleichen. Und ein Vorbezug ist demnach frühestens mit der AHV-Frühpensionierung möglich (Männer ab 63 und Frauen ab 62 Jahren). 

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein kürzlich veröffentlichtes Urteil des St. Galler Verwaltungsgerichts. Es bestätigte, dass es für einen Betroffenen nicht zumutbar sei, bis zur Pensionierung bereits von seiner Altersvorsorge leben zu müssen. Das noch nicht rechtskräftige Urteil stützt sich auf Entscheide zum Schutz von Vorsorgeguthaben auf Bundesebene. Die Gemeinde argumentierte vor Gericht vergeblich mit der Gemeindeautonomie. 

Nach Abzug aller Rechnungen bleiben Frau Müller 300 Franken im Monat für den täglichen Bedarf.

Franziska Müller hilft das nicht. Den grössten Teil ihres Lebens hat sie in der Pflege anderer Menschen hart gearbeitet und hätte sich früher nie vorstellen können, einmal Sozialhilfe zu beziehen. Erst nach längerem Gespräch wird klar, was sie aus der Bahn geworfen hat. Zögernd erzählt sie unter Tränen, wie ihr Sohn ums Leben gekommen ist. «Nach so einem Schicksalsschlag machst du zuerst weiter, als ob nichts geschehen wäre.» Sie wollte nicht in eine «Opferrolle» fallen. «Dann hat es mich auf einmal abgetischt.»

Auf den psychischen Zusammenbruch folgt der Verlust der Stelle. Dann ernsthafte gesundheitliche Probleme unter anderem mit einem chirurgischen Eingriff. Müller versuchte in verschiedenen Jobs wieder Fuss zu fassen. Als Gärtnerin reichte es nicht mehr, als Näherin musste sie aufgrund eines Augenleidens aufgeben. 

Den Kauf eines E-Bikes abgelehnt

Heute lebt Franziska Müller allein. Nach Abzug aller Rechnungen bleiben ihr derzeit 300 Franken im Monat für den täglichen Bedarf. Mit dem alten 3-Gang-Velo kommt sie nicht mehr gut zurecht. Den Kauf eines E-Bikes wäre ihr, die so gerne in der Natur unterwegs ist, wichtig. Doch das hat der Sozialdienst abgelehnt.

Trotzdem ist nicht alle Zuversicht verloren gegangen: Sie habe gelernt, das Geld einzuteilen. «Wir brauchen weniger, als wir meinen.» Rund ein Drittel ihres Vorsorgeguthabens möchte sie gerne dazu verwenden, um einen Teil der bezogenen Sozialhilfeleistungen zurückzuzahlen. Mit dem restlichen Geld würde sie sich gelegentlich etwas leisten, was ihr guttut. Zum Beispiel ein paar Tage Urlaub oder der Kauf eines E-Bikes.