Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und FragenSo gelangen ukrainische Soldaten durch Social Media an Munition
An der Front mangelt es an Munition und Fahrzeugen. Statt auf offizielle Lieferungen der Armee zu warten, setzen ukrainische Militärangehörige auf die Unterstützung der zivilen Bevölkerung.
Für die Beschaffung von Kriegsmaterial setzen viele ukrainische Soldaten und Soldatinnen auf die Unterstützung der zivilen Bevölkerung: Denn die materiellen Ressourcen in der ukrainischen Armee sind knapp. Berichte häufen sich, wonach es an Munition und Fahrzeugen an der Front mangeln soll. Man sei derzeit auf «einige Dinge» am Warten, darunter auf gepanzerte Militärfahrzeuge, sagte auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski am Donnerstag gegenüber BBC.
«Die ukrainischen Streitkräfte brauchen erhebliche Mengen an Munition, um die ukrainische Bevölkerung und das ukrainische Hoheitsgebiet zu verteidigen. Sie brauchen sie schnell», sagte der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell vergangene Woche in einer Mitteilung. Der Europäische Rat habe deswegen eine weitere Unterstützungsmassnahme im Umfang von einer Milliarde Euro für die gemeinsame Beschaffung von Munition und Flugkörpern durch die EU angenommen. Ausserdem soll die Beschaffung von Artilleriemunition beschleunigt werden, um der Ukraine innerhalb von zwölf Monaten nach der Vereinbarung eine Million Artilleriegeschosse zur Verfügung zu stellen.
Armeeangehörige wenden sich an Zivilisten
Bis die Auswirkungen des Massnahmenpakets greifen, wird es noch eine Weile dauern. Und viele ukrainische Soldaten, die derzeit an der Front im Einsatz stehen, wollen keine Zeit verlieren. Statt auf Lieferungen der Armee zu warten, nehmen sie die Materialbeschaffung selbst in die Hand – und rufen auf Social Media zu Spendengeldern für Munition und andere Güter auf, die an der Front fehlen. So auch der Soldat Roman Trokhymets. «Ich kann nicht glauben, dass ich eine solche Nachricht verfasse», sagte er in einer Instagram-Story Ende April 2023.
Aber schwere Zeiten erforderten verrückte Entscheidungen, so der Ukrainer: «Für unsere Gegenoffensive in der Nähe von Bachmut brauchen wir Munition für automatische Granatwerfer und für Panzerabwehr-Granaten.» In einer weiteren Instagram-Story blendet er ein Foto ein, das die benötigte Munition zeigt. «Lasst mich wissen, wenn ihr Informationen dazu habt. Es ist nämlich sehr dringend!»
Dann machte er seine 31’000 Follower darauf aufmerksam, dass der Kauf dieser Munitionen illegal sei. «Eigentlich müsste uns die Regierung damit versorgen. Danke trotzdem für euren enthusiastischen Support.» Der Beitrag war schliesslich ein Erfolg: Auf seine Story meldete sich ein anderer ukrainischer Soldat, der in seiner Einheit noch solche Munition übrig hatte. Genau deswegen habe er sein Anliegen öffentlich gemacht, so Trokhymets.
Auch andere ukrainische Soldaten wenden sich auf Social Media an ihre Follower, um Material für ihre Einheiten zu beschaffen, wie viele Beiträge auf Instagram und Twitter zeigen. Der ukrainische Offizier Max, der an der Front für die Minenräumung im Einsatz steht, teilt auf Twitter mit seinen 138’000 Followern regelmässig Spendenaufrufe. Im Dezember 2022 postete er, dass seine Einheit dringend ein Auto brauche, um die Felder zu entminen. Innerhalb weniger Tage kamen 7500 Dollar zusammen – genug, um das Fahrzeug zu kaufen. Einen Monat später stand es im Einsatz. «Ohne die Hilfe von Freiwilligen wäre es für mich und meine Jungs viel schwieriger, die Kampfaufgaben zu erfüllen und an der Front zu leben», schreibt er in einem weiteren Tweet im März 2023.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Neben Soldaten vernetzen sich auch ukrainische Zivilisten auf Social Media und beschaffen Material und Geld für die Armee: Seit Beginn der russischen Invasion wurden zahlreiche NGOs von Ukrainern und Ukrainerinnen gegründet. Einer von ihnen ist Dimko Zhluktenko, der im Februar 2022 seinen IT-Job kündigte, um sich vollständig dem Freiwilligendienst zu widmen. Mit seiner im Juni 2022 gegründeten Plattform «Dzyga’s Paw» wurden durch Spenden Ausrüstungsgegenstände wie Drohnen, Endgeräte für den Satelliteninternetdienst Starlink, Nachtsichtgeräte, Funkgeräte und Generatoren an Militäreinheiten geliefert, in denen Freunde und Bekannte von ihm im Dienst stehen. Nach eigenen Angaben wurden so bereits 1’030’000 US-Dollar gesammelt.
Im Kampf um Spendengelder greifen gewisse Organisationen auch zu makabren Mitteln. Eine NGO namens Signmyrocket.com verkauft Nachrichten auf Raketen. Für 200 Dollar schreibt ein Soldat den gewünschten Schriftzug auf eine M777-Howitzer-Rakete. Je höher der Spendenbetrag, desto explosiver die Rakete: Wer 1500 Dollar spendet, kann seine Nachricht auf einer Himars-Rakete platzieren lassen. Als Beweis gibt es ein Foto zugeschickt.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Doch Zivilisten spenden nicht nur Geld für Kriegsmaterial – sie beteiligen sich auch an dessen Herstellung. Das gilt insbesondere für Drohnen, die im Krieg in der Ukraine eine entscheidende Rolle spielen, wie verschiedene Thinktanks, darunter das Center for Security Studies der ETH (CSS), festhalten. «Freiwillige Helfer und Crowdfunding-Kampagnen haben die Beteiligung der Zivilbevölkerung an den Kriegsanstrengungen verstärkt», hält das CSS in einem Bericht über den Drohnengebrauch in der Ukraine fest.
Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Streitkräfte hätten einen Teil ihrer Drohnenkapazitäten durch «Spenden» von kleinen Hobbydrohnen aus der Bevölkerung erworben. Ausserdem dürfen verschiedene ukrainische Wohltätigkeitsorganisationen direkt mit der Rüstungsindustrie zusammenarbeiten. «Diese Unterstützung des Privatsektors trägt zur Normalisierung des Einsatzes von mit Sprengstoff beladenen Drohnen bei», steht in dem Bericht.
In der Ukraine operieren verschiedene Netzwerke, die den Bau von Kriegsdrohnen organisieren. Ein Reporter der britischen Zeitung «The Economist» sprach mit dem Betreiber eines dieser Netzwerke. Der Mann mit dem Pseudonym Swat, der in der Region Kiew lebt, habe im Februar 2022 damit begonnen, Teile in seinem 3-D-Drucker zu produzieren, die zur Anbringung von Sprengsätzen an kommerziellen Drohnen dienten. Inzwischen koordiniert er die Produktion von 300 3-D-Druckern im ganzen Land, die Teile für die Kriegsdrohnen herstellen. Ein weiterer Ukrainer mit dem Pseudonym Rocketrin, der von der Zeitung besucht wurde, baut auf einer Arbeitsbank in seinem Zuhause die Drohnen aus den Teilen zusammen. Weil die Nachfrage «endlos» sei, wolle er die Produktion bald in eine Autogarage verlegen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.