Beschwerde nach WahlsiegPolitisches Erdbeben: Bundesgericht entzieht Ständerat Simon Stocker das Mandat per sofort
Seine Wahl war die Politsensation im Herbst 2023. Nun urteilt das oberste Gericht, dass der SP-Ständerat seinen Wohnsitz nicht in Schaffhausen hatte. Der Kanton muss Neuwahlen ansetzen.

- Das Bundesgericht erklärt die Wahl wegen Nichterfüllung der Wohnsitzpflicht für ungültig.
- Der Kanton Schaffhausen muss nun eine komplette Neuwahl durchführen.
- Die bisherigen Entscheide des Ständerats mit Stockers Stimme bleiben gültig.
- Der Entscheid nährt die politische Debatte über die Wohnsitzpflicht.
Es ist ein Vorgang von seltener Wucht in der Schweizer Demokratiegeschichte: Das Bundesgericht hat die Wahl von Simon Stocker (SP) zum Schaffhauser Ständerat für ungültig erklärt. Der Grund: Stocker erfüllte am Wahltag nicht die Pflicht, seinen Wohnsitz im Kanton zu haben.
Zwar war er dort im Stimmregister eingetragen, doch das Gericht kam zum Schluss, dass er mehr Zeit bei seiner Partnerin und seinem Kind in Zürich verbrachte als in Schaffhausen. Damit wird der Volksentscheid vom 19. November 2023 faktisch rückgängig gemacht – ein politischer Präzedenzfall.
Das Bundesgericht hebt damit den Entscheid des Schaffhauser Obergerichts auf, das im Juli 2024 eine Beschwerde gegen die Wahl Stockers abgewiesen hatte. Stocker blieb daraufhin im Amt – bis jetzt.
Neuwahlen statt Nachrücken
Der 2023 unterlegene parteilose Langzeitständerat Thomas Minder wird aber nicht automatisch zu Stockers Nachfolger erklärt – obwohl er bei der Wahl auf dem zweiten Platz gelandet ist.
Weil weder die Schaffhauser Verfassung noch das kantonale Wahlgesetz für diesen Fall eine Regelung kennen, sagt das Gericht: In Persönlichkeitswahlen ist eine neue Wahl durchzuführen, wenn ein Gewählter im Nachhinein als nicht wählbar gilt.

Die Verantwortung liegt nun bei der Schaffhauser Regierung, die eine Nachwahl ansetzen muss. Diese findet am 29. Juni statt, ein allfälliger zweiter Wahlgang im August. In der Sommersession wird der Sitz vakant sein.
Auf Instagram zeigte sich Stocker am Mittwoch enttäuscht vom Urteil, sagte aber auch, er müsse es akzeptieren. Und der SP-Politiker gab bekannt, er werde wieder antreten: «Meine Erfahrung und meine Arbeit in Bern bestärken mich, ohne zu zögern zu sagen: Ich trete wieder zur Wahl an und bin überzeugt, dass es mir zusammen mit euch allen erneut gelingen wird, diesen Sitz zu erobern.»
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Voraussetzung dafür, dass Stocker wieder antreten kann, ist ein unbestrittener Wohnsitz in Schaffhausen. An einer Medienkonferenz am Mittwoch sagte er, seine Familie lebe in Schaffhausen, seine Frau sei im Kanton angemeldet und das gemeinsame Kind gehe inzwischen dort in den Kindergarten. In Zürich hätten sie noch eine Zweitwohnung.
Ob auch Thomas Minder erneut kandidiert, bleibt vorerst offen. Er hat am Mittwoch auf eine Anfrage dieser Redaktion nicht reagiert. Klar ist hingegen: Die Entscheide des Ständerats, bei denen Stocker mitbestimmte, bleiben gültig. Hier argumentiert das Bundesgericht mit der Rechtssicherheit.
Sensation in Schaffhausen
Es war die Politsensation der Wahlen 2023: Der bis dahin wenig bekannte SP-Politiker Simon Stocker verdrängte Thomas Minder, den Vater der Abzockerinitiative, aus dem Ständerat. 15’769 Stimmberechtigte hatten Stocker gewählt. Damit hatte er 2265 Stimmen mehr als Minder, der zwölf Jahre lang den Kanton im Ständerat vertreten hatte und gern weiter in Bern politisiert hätte.
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Stocker war von 2013 bis 2020 Mitglied der Schaffhauser Stadtregierung. Nach seinem Rücktritt blieb er aktiv, etwa als Berater für Gemeinden im Kanton. Dass er sich dort politisch zu Hause fühlte, ist klar. Er ist auch im Stimmregister eingetragen. Juristisch genügte das jedoch nicht.
Die Schaffhauser Verfassung verlangt laut dem Bundesgericht: Wer den Kanton im Ständerat vertritt, muss im Kanton wohnen. Zwar steht das nicht wortwörtlich so im Verfassungstext, aber es sei das Ziel des Verfassungsgebers gewesen, argumentiert das Gericht mit Verweis auf ein Protokoll des Kantonsrats. Und wohnen, so hielten die Richter fest, bedeute mehr als ein Name im Stimmregister. Laut Bundesgericht lebte Stocker zum Zeitpunkt seiner Wahl mit Ehefrau und Kind in Zürich – und genau dort lag auch sein Lebensmittelpunkt, also der zivilrechtliche Wohnsitz.
Stockers Steuersitz hat das Bundesgericht für den Entscheid nicht einbezogen. Offenbar lagen dazu keine Belege vor vom Obergericht – und es stützt sich nur auf Materialien der Vorinstanz ab. Die Schaffhauser Staatskanzlei hatte öffentlich bestätigt, dass Stocker in Schaffhausen Steuern bezahlt.
Von der «Weltwoche» zum Bundesgericht
Die Beschwerde, die Simon Stocker nun zu Fall bringt, kam unter bemerkenswerten Umständen zustande. Zwei Stimmbürger hatten sie kurz nach dem Urnengang eingereicht – darunter D., der sich später vor Gericht als überzeugter Unterstützer von Thomas Minder outete. Er verteilte im Wahlkampf Flyer, schrieb Leserbriefe und nahm an Aktionen teil. «Ich bin froh, dass ein Politiker wie Minder in Bern wirken darf», sagte er in der Verhandlung vor dem Obergericht. Minder sei ein «seltenes Exemplar», unerschrocken, unabhängig.
D. will laut eigenen Angaben erst durch einen Artikel in der «Weltwoche», fünf Tage nach der Wahl, auf Stockers Wohnsitz in Zürich aufmerksam geworden sein. Er habe sich daraufhin – schockiert – bei Claudio Kuster gemeldet, dem langjährigen politischen Sekretär von Thomas Minder.
Kuster habe ihm erklärt, eine Wahlbeschwerde sei «in Vorbereitung», er könne sich dieser anschliessen – kostenlos. D. wandte sich darauf an den Winterthurer Anwalt Peter Rütimann.
Der Beschwerdeführer begrüsst laut einer Mitteilung seines Anwalts Peter Rütimann den Entscheid des Bundesgerichts ausdrücklich. Dieses bringe mit «grosser Klarheit» zum Ausdruck, dass Simon Stocker am Wahltag keinen politischen Wohnsitz in Schaffhausen hatte. Das ist für den Anwalt entscheidend: «Die Feststellung des Bundesgerichts, wonach die politischen Rechte zwingend am zivilrechtlichen Wohnsitz wahrgenommen werden müssen, hat über den konkreten Fall grosse Bedeutung.»
Beschwerde wegen Wohnsitzpflicht
Rütimann politisiert im Bezirk Winterthur für die FDP und übernahm das Mandat nach eigenen Angaben aus «staatsbürgerlichen Gründen». Die Initiative zur Beschwerde habe er selbstständig ergriffen, nachdem er – so sagte er – durch einen anderen Stimmberechtigten auf die Wohnsitzthematik aufmerksam gemacht worden sei.
Am nächsten Tag war die Beschwerde eingereicht. Der zweite Einsprecher, ein betagter Alt-Politiker, zog sich später zurück und erklärte in der Lokalpresse, man habe ihn «gefragt, ob er seinen Namen hergeben wolle», er habe dann «eine Vollmacht unterschrieben». Wer hinter der Aktion stecke? «Ich weiss nicht, wer alles dazugehört», sagte er.
Das Obergericht Schaffhausen wertete diese Vorgänge nicht als rechtsmissbräuchlich. Entscheidend sei, dass D. die Beschwerde aus eigener Überzeugung eingereicht habe. Das Gericht entschied darauf, die Wahl sei gültig, Stocker könne Ständerat bleiben.
Anders das Bundesgericht. Es konzentrierte sich auf die juristische Frage: Wo wohnte Simon Stocker am Wahltag? Die Antwort war für die Lausanner Richter eindeutig: in Zürich. Und damit ist die Wahl nichtig.
Wohnsitzpflicht soll abgeschafft werden
Der Fall hat über Schaffhausen hinaus eine Debatte ausgelöst: Ist es noch zeitgemäss, an der Wohnsitzpflicht festzuhalten, wenn Lebensrealitäten längst dezentral und flexibel sind? Simon Stocker selbst hatte vor Obergericht gesagt: «Ich kämpfe nicht nur für uns und unsere Familie, sondern auch für andere mit ähnlichen Lebensentwürfen.»
Politikerinnen und Politiker von SP, Grünen und GLP fordern die Abschaffung der Wohnsitzpflicht für Ständerätinnen und Ständeräte. «Diese Regel ist anachronistisch und verhindert die Vereinbarkeit zwischen Ständerat und gleichberechtigtem Familienleben», sagt Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone. SVP, FDP und Mitte halten dagegen: Wer einen Kanton vertrete, solle auch dort wohnen.
Simon Stocker könnte weiter kämpfen
Ein ähnlich gelagerter Fall liegt über zwanzig Jahre zurück: 2002 hob das Bundesgericht die Wahl eines Abgeordneten in das Luzerner Kantonsparlament auf, weil dieser zum Zeitpunkt der Wahl nicht wählbar war – er amtierte noch als Verwaltungsrichter, was laut kantonalem Recht eine Unvereinbarkeit darstellte.
Das Gericht hielt fest: Nicht die Amtsübernahme, sondern die Wahl selbst setzt volle Wählbarkeit voraus. Diese Grundsatzüberlegung hat das Bundesgericht nun im Fall Stocker erneut angewendet – mit dem Unterschied, dass es sich diesmal um einen Sitz im Bundesparlament handelt.
Das Obergericht Schaffhausen muss nun zwar noch darüber entscheiden, welche Entschädigungen und Kosten Stocker und der Beschwerdeführer bezahlen müssen. In der Sache ist der Entscheid aber definitiv.
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