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Nach Erdrutschkatastrophe
Ein Damm und «gewaltige Zusatz­pensen»: Wie das Glarner Dorf Schwanden zurück in den Alltag findet

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«Schon gewaltig, hä.»

Jürg Hefti kraxelt in seinen Trekking-Schuhen einen Hang hoch und blickt runter. Unter ihm befindet sich das Dorf Schwanden im Kanton Glarus. Mittendrin: ein neuer, fast neun Meter hoher Schutzdamm. Da, wo 2023 einer der verheerendsten Erdrutsche der Schweiz niederging.

Rundherum stehen noch ein paar Bagger, doch der Schutzdamm ist so gut wie fertig. Hefti, der zu den betroffenen Anwohnerinnen und Anwohnern gehört, nennt ihn einen «Gamechanger». Er biete dem betroffenen Dorfteil Sicherheit. Denn noch immer könnten über 30’000 Kubikmeter Material runterkommen. Dank dem Damm könne die Rückkehr ins alte Leben «endlich richtig losgehen».

Im August 2023 donnerten Erde und Gestein mit dem Volumen von 30 Einfamilienhäusern ins Dorf. Heftis Haus traf es am Tag vor Heiligabend, als nach viel Regen noch einmal sehr viel Material den Hang herunterkam. 

Es dauerte Monate, bis der «Dregg», wie ihn die Glarner nennen, aus den Kellern und Stuben herausgeschaufelt und -gesaugt war. Bis heute sieht man an den Hauswänden und Garagen, wie hoch der Schlamm kam.

Doch die Geschichte von Schwanden ist nicht nur jene eines Dorfes, das mit den Folgen einer verheerenden Naturkatastrophe kämpft. Sondern auch die von engagierten Menschen wie Jürg Hefti, deren Engagement gemäss Gemeindepräsident «weit über das Alltägliche hinausgeht». Und die immer wieder fragen (oder eher ausrufen): «Das kann doch nicht sein?»

Studierende helfen beim «Verarbeiten der Ereignisse»

Letzten Sommer etwa, als der 55-Jährige in seinem verunstalteten Garten steht. Zu jenem Zeitpunkt wurden bereits die ersten Gebäude abgerissen, insgesamt 44 müssen am Ende weichen. 46 Bewohnerinnen und Bewohner mussten ihr Zuhause aufgeben. Weitere 25 ihren Arbeitsort. Hefti gehört zu den zwei Dutzend Menschen, die in ihr Haus zurückkönnen. Doch noch lebt er mit seiner Frau und den zwei Töchtern in einer leer stehenden Wohnung im Nachbardorf.

Ihr Haus muss zuerst totalsaniert werden. Und dafür muss aus Versicherungsgründen zuerst der Schutzdamm fertig sein und die Planungszone aufgehoben werden.

Da steht er also letzten Sommer und fragt sich, wie es sein kann, dass sein Garten so aussieht, wie er aussieht. Und warum niemand dafür zahlt. Die Gebäudeversicherung übernimmt zwar die Gebäudeschäden und Aufräumarbeiten, doch die Gärten und Sitzplätze sind nicht versichert. Diese im Quartier nur schon wieder auf den alten Stand zu bringen, kostet gemäss einer von der Gemeinde in Auftrag gegebenen Kostenschätzung eine halbe Million Franken.

Der Berufsschullehrer und Hobbyimker hat eine Idee. Er wendet sich an Peter Vogt, einen Professor der Ostschweizer Fachhochschule OST in Rapperswil-Jona. Er lehrt dort im Studiengang Landschaftsarchitektur – und lässt sich mitreissen. «Als Jürg mit seinem Anliegen kam, war für mich schnell klar, dass es sich um etwas Wichtiges handelt», sagt Vogt später. Er entwickelt mit dem Glarner zusammen einen Wettbewerb für die Studierenden. Am konkreten Beispiel von Heftis Quartier entwickeln sie Projekte, wie der Freiraum künftig aussehen könnte.

Eine Win-win-Situation: Die Studierenden haben eine reale Übungsanlage und geben mit ihren Ideen den Erdrutsch-Betroffenen etwas zurück, sagt der Professor: «Letztendlich hilft das beim Verarbeiten der Ereignisse.»

Aus Material des Erdrutsches werden Sitzsteine

Ende Februar zupft Hefti – für einmal nicht in Funktionsjacke, sondern im hellblauen Hemd – in Rapperswil nervös an einem Geschenkkorb herum. Zwölf Projekte haben die Studierenden eingereicht, an diesem Dienstagabend werden an der Fachhochschule die besten prämiert. «Ich habe von Anfang an gesagt: Wenn wir einen Wettbewerb machen, dann brauchts auch eine ordentliche Prämierungsfeier», sagt Hefti. Nicht ganz ohne Hintergedanken. Er wird an jenem Abend eine Spendenaktion lancieren. Denn um die Ideen umzusetzen, braucht es Geld.

Ein Mann in einem blauen Hemd spricht auf einer Bühne hinter einem Rednerpult. Im Hintergrund ist ein Bildschirm mit dem Logo der OST zu sehen.

Es geht ihm aber auch um die Studierenden, für die er üppige Geschenkkörbe mit Glarner Produkten organisiert hat. Sie haben sichtlich Freude an ihren Projekten. Auch wenn diese – so drückt es eine Quartierbewohnerin beim anschliessenden Apéro aus – auf den ersten Blick «etwas exotisch» wirkten. Mal gestalten sie die Gärten im «Verrucano-Design», mal mit Lichtinstallationen oder Wasserbecken, die eher an Japan denn an Glarner Dorfleben erinnern.

Doch was besonders begeistert: Die Studierenden haben Material aus dem Erdrutsch verwendet. Verrucano ist ein Gestein, das mit dem Erdrutsch runterkam – und das zwei Studentinnen zu Sitzsteinen und Wegplatten umfunktioniert haben. Andere schlagen vor, Steinmaterial aus dem Erdrutsch zu mahlen und daraus Betonelemente für die Bepflanzung zu machen. Und auch wenn sich die Projekte nicht sofort und 1:1 umsetzen lassen, sind sie für die Betroffenen «ein Hoffnungsschimmer», sagt Hefti an jenem Abend.

Eines der teuersten Ereignisse der Schweiz

Einen Monat später steht er an jenem Hang, der ihm und seinen Mitmenschen so viele Probleme bereitet. Die Gemeinde hat zu einem Medienrundgang geladen, um den Schutzdamm zu präsentieren. 

Er hat 5,5 Millionen Franken gekostet. Gemeindevertreter sagen, die Erdrutschkatastrophe sei eines der teuersten Einzelereignisse der Schweiz. Die Schadenssumme beziffert sie auf einen zweistelligen Millionenbetrag. Alleine die kantonale Gebäudeversicherung musste Schäden von rund 25 Millionen decken.

Darunter jene an Heftis Haus. Da der Damm nun fertig ist, kann endlich renoviert werden. Die Familie hofft, Ende Jahr wieder einziehen zu können. 

In der Zwischenzeit hat Jürg Hefti ausserdem zusammen mit Kollegen einen Quartierverein gegründet und schon einige Tausend Franken Spenden für die kaputten Gärten gesammelt. Als Betroffener steht er vor die Kameras und Mikrofone. Und scheint auch nach bald zwei Jahren nicht müde zu werden, die menschliche Betroffenheit zu schildern.

«Ein gewaltiges Zusatzpensum habe ich mir hier verschafft», sagt Hefti in einer ruhigen Minute und lacht. Er mustert zufrieden den imposanten Schutzdamm. «Schon gewaltig.» Dann wird sein Blick ernst. Dass er zur Stimme der Betroffenen wurde, habe auch damit zu tun, «dass andere psychisch nicht in der Lage dazu waren». Die Naturkatastrophe habe bei vielen Spuren hinterlassen.

«Ich glaube, irgendwodurch habe ich mich durch diese Nebenbeschäftigung abgelenkt, mich selber beschäftigt.» Aber er habe sich entschieden, das durchzuziehen. Bis in Schwanden endlich wieder Normalität einkehrt.

Und der Schutzdamm zu einer Art Mahnmal wird.