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Gemeinden am Anschlag
«Tami du!», ruft er – erstaunt darüber, was die Natur alles vermag

Schwanden kämpft mit der Bewältigung des Erdrutsches. 

Der Gemeinderat Markus Marti braucht dafür so viel Zeit, dass er seinen Hauptberuf nicht mehr ausführen kann. Wohin führt das mit unserem Milizsystem?

Schwanden, 2.10.2024
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In Kürze:
  • Markus Marti bewältigt als Gemeinderat die Folgen des gewaltigen Erdrutsches in Schwanden.
  • Sein Arbeitsaufwand zeigt die Grenzen des Schweizer Milizsystems auf.
  • Marti arbeitet oft 100 Prozent für die Gemeinde, verdient aber nur den Lohn eines 30-Prozent-Pensums.
  • Der oberste Gemeindepolitiker fordert darum stärkere Unterstützung für die Gemeinden wegen Klimakrisen.

Die beiden Gemeinderäte stehen in Schwanden GL auf einem Hügel und schauen auf eine riesige Baustelle, schweigend, fast schon andächtig, als habe ihnen der Anblick einen Moment lang die Sprache genommen.

Markus Marti ist bei der SVP,  Hans Rudolf Forrer bei der SP. Marti ist der Jüngere der beiden und im Gemeinderat zuständig für das Departement Wald und Landwirtschaft. Hans Rudolf Forrer ist der Extrovertiertere der beiden und Gemeindepräsident. Als man kürzlich in der Kirche Lieder sang, schallte Forrers Stimme unüberhörbar durch das Kirchenschiff, erzählt Marti. «Ja, das war eine sehr schöne Feier», sagt Forrer. Marti hat geheiratet. Forrer war dabei.

Unten, in diesen braunen Schlund, kippen Bagger und Lastwagen Steine.

«Tami du!», ruft Marti auf einmal. Tami du. Es ist kein böser Fluch, und doch ist im Ausruf ziemlich viel drin. Erstaunen darüber, was die Natur alles vermag. Verwunderung aber auch darüber, was der Mensch alles kann. Der Schlund unter ihnen war mal ein Katastrophengebiet. 

35’000 Kubikmeter Schlamm rutschten im August 2023 in Schwanden zu Tal, das ist das Volumen von 30 Einfamilienhäusern.

Im August 2023 kamen oberhalb der Baustelle Erdmassen ins Rutschen, in rauen Massen und mit brutaler Wucht. 30 Sekunden dauerte es, und 35’000 Kubikmeter Schlamm waren unten. 

Die Erdmassen verschütteten Häuser und brachten die beiden Männer in den folgenden Monaten an den Rand der Erschöpfung. Heute sieht das Loch aufgeräumt aus, planiert und gebüschelt, fast schon schön.

«Heieiei», ruft nun Forrer. Verrückt sei das, wie man vorwärtsgemacht habe. Kürzlich gab es sogar ein Lob aus Bern. Hätten sie nicht gedacht, dass die Glarner so schnell vorankommen. Vier Wochen vor Zeitplan. Das liegt vor allem auch an Marti und Forrer.

Schwanden kämpft mit der Bewältigung des Erdrutsches. 

Gemeindepräsident	Hans Rudolf Forrer
Schwanden, 2.10.2024

Die Gemeinderäte haben die Ärmel hochgekrempelt und gearbeitet. Schadensbewältigung sagt man dem. Doch die Arbeiten zeigen auch indirekt die Verwundbarkeit des Milizsystems, man sieht das am Beispiel von Marti. 

Die Überstunden verfallen in Glarus Süd

Der 34-Jährige ist seit zwei Jahren Gemeinderat von Glarus Süd, einem Zusammenschluss von 17 Glarner Gemeinden mit knapp 10’000 Einwohnerinnen und Einwohnern. 30 Prozent beträgt sein Pensum, 50’000 Franken erhält er dafür im Jahr. Ein guter Lohn, sagt er. Daneben arbeitet er als Landmaschinenmechaniker.

Der Erdrutsch änderte alles. 46 Personen mussten sich ein neues Zuhause suchen. 44 Gebäude wurden oder werden noch abgerissen. Es brauchte neue Strassen, neue Schutzbauten, eine neue Gefahrenkarte. 

Mittendrin: Markus Marti, plötzlich von Amtes wegen dafür verantwortlich. Statt 30 Prozent arbeitete er auf einmal die meiste Zeit 100 Prozent für die Gemeinde. Bei gleichem Lohn. Es ist das Los des Exekutivpolitikers. Überstunden werden nicht abgerechnet. 

Marti zuckt nicht einmal mit den Schultern. «Das stimmt für mich. Mich braucht es hier.» Er sei froh, dass er einen toleranten Chef habe und er als Landmaschinenmechaniker auf Stundenlohnbasis arbeiten könne. Das gebe ihm die nötige Flexibilität.

Schwanden kämpft mit der Bewältigung des Erdrutsches. 

Schwanden, 2.10.2024

Markus Marti ist ein Mensch, der lieber über Subventionsberechtigungen spricht als über Markus Marti. Es entspreche nicht seinem Naturell, zu jammern. Er konzentriere sich auf die Sache. «Natürlich, es ist viel Arbeit. Doch es ist auch eine schöne Arbeit. Ich kann helfen und Einfluss nehmen.»

Und das Geld? Das Thema kümmere ihn nicht gross, sagt er, ziemlich trocken und kurz. Mittlerweile hat die Gemeinde Sitzungsgelder und Spesenentschädigungen für dieses Ereignis eingeführt, um den Mehraufwand der Behördenvertreter etwas abzufedern.

Oberster Dörfler Zopfi lobt Marti

Marti erwähnt am Rande, dass er eine Woche vor dem Erdrutsch Vater wurde. Ging auch noch. Den Hof der Eltern übernahm er im vergangenen Jahr ebenfalls. Musste auch gehen. 

Es ist nicht sonderlich verwegen zu behaupten: Ein anderer hätte hingeschmissen. Hätte gesagt, es gehe nicht mehr. Und alle hätten es verstanden. Marti aber arbeitet weiter.

Auch darum erwähnte ihn kürzlich der oberste Gemeindepolitiker in einem Interview mit den Zeitungen von CH Media. Der grüne Ständerat Mathias Zopfi wohnt ebenfalls in der Gemeinde Glarus Süd und kennt Marti – war aber nicht zur Hochzeit eingeladen. Marti habe ihn beeindruckt, sagt Zopfi. «Da kann man auch mal Danke sagen.»

Der neu gewaehlte Glarner Staenderat Mathias Zopfi (Gruene), posiert fuer ein Portrait am Montag, 21. Oktober 2019, in Glarus. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)

Als neuer Präsident des Schweizerischen Gemeindeverbands kümmert Zopfi sich um das Milizsystem. «Wir müssen ihm Sorge tragen.»

Zopfi spricht von oftmals fehlender Anerkennung. Von Anforderungen, die für viele Gemeinden in den vergangenen Jahren zugenommen hätten. Und von den Folgen des Klimawandels, der viele Gemeinden gerade in den Bergen unmittelbar trifft. «Wir alle, auch Bund und Kantone, müssen künftig Leute wie Marti noch stärker unterstützen, denn wegen der Klimakrise werden sich Katastrophen in Berggebieten häufen.»

Zopfi denkt an Orte wie Schwanden oder auch Saas-Grund im Wallis, das im Sommer durch Sturzbäche verwüstet wurde. Eine Gemeinde mit 1000 Einwohnern, vom Tourismus abhängig, inmitten hoher Berge gelegen. Bruno Ruppen ist seit 12 Jahren Gemeindepräsident von Saas-Grund, sein Vater war es ebenfalls schon, nun naht der Abschied, Ende Jahr hört er auf.

«Als ich anfing, herrschte die Meinung, dass man als Gemeindepräsident jeweils am Abend nach der Arbeit für ein, zwei Stunden noch ins Gemeindehaus ging, um Sachen zu erledigen»: Bruno Ruppen, Gemeindepräsident von Saas-Grund.

Wenn Ruppen zurückblickt, dann prägten sein Amt primär zwei Dinge. Erstens: ausserordentliche Ereignisse wie das Hochwasser von diesem Sommer. «Da kommst du an den Anschlag.» Zweitens: wie sich die Anforderungen an sein Amt veränderten.

«Als ich anfing, herrschte die Meinung, dass man als Gemeindepräsident jeweils am Abend nach der Arbeit für ein, zwei Stunden noch ins Gemeindehaus ging, um Sachen zu erledigen», sagt Ruppen. Der Walliser arbeitete 100 Prozent bei der Lonza und merkte bald: Das geht nicht auf. Über die Jahre delegierte der Kanton immer mehr Aufgaben an die Gemeinden, zudem hätten auch die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger zugenommen. 

Arbeitslast als Gemeindepräsident kann ein Problem sein

Heute rechnet seine Gemeinde mit einem 60-Prozent-Mandat und einem Jahreseinkommen von 72’000 Franken. Auch das sei eigentlich zu wenig, sagt er, doch im Wallis seien Gemeindeämter auch mit einem gewissen ehrenamtlichen Charakter verbunden. 

Nach dem Unwetter im Sommer stieg seine Arbeitslast noch einmal an. 80 Stunden arbeitete er pro Woche, die Überzeit wurde nicht vergolten. «Das ist für mich in Ordnung», sagt er. Er sei 70 und Pensionär, er müsse nicht jede Stunde bezahlt sein und sei flexibel. «Doch für Jüngere mit Familien wäre diese Arbeitslast ein Problem.» 

Wie man das lösen kann? «Schwierig. Vielleicht indem man das Milizsystem aus der Ecke des Ehrenamtlichen holt.» Auch wenn das ihn ein bisschen schmerze, weil er diesen Dienst an der Gesellschaft immer gut fand. «Es braucht faire Löhne, sonst übernimmt ein junger Mensch mit einem guten Job ein solches Amt kaum mehr», sagt Ruppen. 

Ex-Gemeindepräsidentin Anna Giacometti steht vor Gericht

Es ist nicht nur der oftmals überschaubare Lohn, der das Amt für viele unattraktiv macht. Auch die Frage der Verantwortung kann belasten, manchen macht sie sogar Angst. 

Darum blicken in diesen Tagen viele Behördenmitglieder mit Unbehagen ins Bergell. Dort ging 2017 in Bondo ein gewaltiger Murgang zu Tal. Er begrub acht Alpinisten unter sich und verwüstete das Bergdorf. Anna Giacometti war damals Gemeindepräsidentin und ging von Tür zu Tür, um die Menschen aus ihren Häusern zu holen. 

Trucks carry dirt in Bondo, Graubuenden in South Switzerland, on Monday, August 28, 2017. The village had been hit by a massive landslide on Wednesday last week. The main road between Stampa and Castasegna is disconnected. The village has been evacuated. Eight people have been reported missing. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)

Giacometti war die Krisenmanagerin und organisierte den Wiederaufbau. Sie machte das in der öffentlichen Wahrnehmung so gut, dass sie zwei Jahre später Nationalrätin wurde.

Im Juli klagte die  Staatsanwaltschaft Graubünden Giacometti und vier weitere Personen wegen «mehrfacher fahrlässiger Tötung» an. Die verunglückten Berggänger waren auf einem Wanderweg unterwegs gewesen, der offen war – trotz eines Piz Cengalo, bei dem immer wieder Gestein abbrach. Nun soll das Gericht prüfen, ob Giacometti als Gemeindepräsidentin mitverantwortlich für deren Tod ist. Giacometti will nicht über den Fall sprechen.

Für Hans Rudolf Forrer, Gemeindepräsident von Glarus Süd, wäre ein Schuldspruch verheerend. «Dann hätten wir in der Schweiz ein Problem. Niemand würde diesen Job mehr machen wollen», sagt er.

Schwanden kämpft mit der Bewältigung des Erdrutsches. 

Der Gemeinderat Markus Marti braucht dafür so viel Zeit, dass er seinen Hauptberuf nicht mehr ausführen kann. Hier im Bild mit Gemeindepräsident Hans Rudolf Forrer, rechts. 

Schwanden, 2.10.2024

Forrer hat sich während der Unwetterbewältigung einige Male ertappt, wie er sich fragte: Hei, was ist, wenn wir einen Fehler machen? «Wir sind eigentlich Laien. Ich hätte zum Beispiel gerne einen Mentor an meiner Seite gehabt.»

Marti nickt. «Wir wurden aber von den Experten gut unterstützt.» Er freue sich, wenn es wieder etwas ruhiger werde. Als er sich daheim kürzlich nach dem Nachtessen wieder einmal wegen einer Sitzung verabschiedete, sagte ihm seine Frau: «Es wäre schön, wenn du mal nicht erst um halb elf nach Hause kommst.» Er müsse seiner Frau ein Kränzlein winden. «Ohne sie wäre das alles nicht gegangen.»

Es klingt wie eine Liebeserklärung. Auf Bergler Art.