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Zweiter Wahlgang Ständerat
Er beschert Volksheld Thomas Minder einen dicken Hals

Simon Stocker (SP) strahlt nach seiner Wahl beim 2. Wahlgang des Staenderates in Schaffhausen am Sonntag, 19.November 2023. (KEYSTONE/Walter Bieri)
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Freunde nennen ihn «Obama vom Rheinfall», Weggefährten bezeichnen ihn als «Wunschschwiegersohn». Und seit Sonntag hat Simon Stocker einen neuen Beinamen: Ständerat, ganz offiziell.

Kurz vor zwei am Nachmittag ist es amtlich – und bald weiss es die ganze Schaffhauser Altstadt. SP-Politiker Stocker defiliert mit seinen Anhängerinnen und Anhängern durch die Strassen in Richtung Kantonsverwaltung. Sie jubeln und rufen seinen Namen. Simon! Simon! Simon!

Die Wahl von Stocker ist eine Überraschung, er selbst spricht von einer «Sensation». Der 42-Jährige wirft den prominenten Bisherigen Thomas Minder aus dem Ständerat. «Es ist wie Heirat, Geburt des Sohnes und Weihnachten zusammen», sagt Stocker und merkt, dass das etwas schief klingt, korrigiert sich und sagt: «Gut, die Geburt meines Sohnes war schon etwas emotionaler. Und auch meine Hochzeit. Aber der Druckabfall ist immens. Der Wahnsinn. Jetzt will ich feiern.» 

Zuversichtlich und vorsichtig

Stocker war im Vorfeld zuversichtlich – man konnte das lesen. Stocker gab sich am Sonntag vorsichtig – man konnte das sehen. Seine Parteikollegen analysierten mit Bierchen in der Hand und einem Lachen auf dem Gesicht die Resultate am Laptop, er stand mit ernstem Blick und Händen im Hosensack daneben. «Solid nervös», sagt er. Nur nichts verschreien. Als die Resultate reinkamen, eines nach dem anderen, erst auf dem Land, dann in den Städten, sah es für ihn immer besser aus. Bald kamen die Gewissheit und dann ein lauter Schrei. 

2265 Stimmen mehr als Minder. «Ein riesiger Erfolg», sagt er.

Ähnliches lässt sich an diesem Tag auch von Stockers Partei sagen. Die SP gewinnt einen Sitz in Schaffhausen, sie hält ihn in Solothurn, total legt sie im Ständerat zwei Sitze zu. Sie ist eine der Siegerinnen dieses zweiten Wahlganges. Eine andere ist die Mitte. Sie holt im Tessin einen Sitz durch Fabio Regazzi und jagt mit Marianne Binder im Aargau der SVP einen Sitz ab, künftig hält sie 15 Sitze im Ständerat. Niemand hat mehr.

Landammann Jean-Pierre Gallati, links und Marianne Binder-Keller, Mitte-AG, Staenderatskandidatin und Nationalraetin, rechts am Point de Presse zum zweiten Wahlgang der Aargauer Staenderatswahl, fotografiert am Sonntag, 19. November 2023 in Aarau. (KEYSTONE/Manuel Lopez)

Und damit ist auch die Verliererin bestimmt: die Rechte. Die FDP geht leer aus. Die SVP hält zwar ihren Sitz von SVP-Präsident Marco Chiesa im Tessin. Sie schafft es aber nicht in Solothurn und Zürich in den Ständerat, sie verliert ihren Sitz gar im Aargau – und mit Minder aus Schaffhausen eine weitere Stimme der Fraktion.

Als Simon Stocker mit seinen Anhängerinnen in Schaffhausen feiert, fragen sich einige Anhänger, ob Thomas Minder auch vorbeikommt. Schnell setzt sich der Gedanke durch, dass Minder noch nie an solche Anlässe gekommen sei, schon gar nicht als Verlierer. 

Minder kannte man in vergangenen Jahren als Vater der Abzockerinitiative und als Person, die häufig hässig war. Minder sprach in solchen Momenten gern von seinem «dicken Hals». Sein Hals war sein Antrieb und sein Wahlgarant. Durch seine Wut auf die Abzocker wurde er vor zehn Jahren zum Volkshelden, heute machen ihn vor allem CS-Banker und Ausländer hässig. 

Thomas Minder im Wahlkampf mit Simon Stocker im Studio von Tele Top.

Doch offenbar verfing sein Furor beim Schaffhauser Volk nicht mehr. So sah sein Wahlkampf aus wie eine verrutschte Krawatte: eher unglücklich. Erst mochte er nicht wahlkämpfen, dann misslang es. Ein Beispiel: Als Minder merkte, dass es knapp werden könnte mit der Wiederwahl, wollte er mitten in der Altstadt eine Stunde lang gratis Glühwein verteilen. Doch gemäss der Wochenzeitung «Schaffhauser AZ» lief er auf: Die Standbetreiber, mit denen er kooperieren wollte, gaben sich nicht für politische Aktionen her.

Ganz anders Stocker. Er sammelte Spenden in Rekordhöhe. Er redete von einer Verjüngung, er sprach vom Wandel. «Bei diesen Worten sprechen halt manche Leute auch vom Obama», sagt er und verdreht die Augen. 

Ein gemässigter Sozialdemokrat

Stocker war bis 2020 Schaffhauser Stadtrat. Er gilt als gemässigter Sozialdemokrat, der nicht den EU-Beitritt anstrebt, nicht einmal in ferner Zukunft. Er wird zudem als Mann beschrieben, der es mit allen Menschen könne, darum auch das Attribut «Wunschschwiegersohn». Als er vergangene Woche in Schaffhausen das Hearing mit den sechs SP-Bundesratkandidatinnen und -kandidaten moderierte, machte er das wie ein Conférencier, mit Selbstironie und Sinn für Pointen, aber auch sehr darum bedacht, nicht anzuecken. 

«Politik ist Timing», sagt er. «Ich war die richtige Person für den richtigen Moment.» 2019 sei die Zeit noch nicht reif gewesen, darum habe er damals noch nicht kandidiert. Doch in den vergangenen Jahren habe er gespürt, wie die Menschen einen Wechsel wollen. Minder war 12 Jahre im Amt, der wiedergewählte Hannes Germann (SVP) ist es gar seit 21 Jahren. 

Wenn Stocker vom nötigen Timing spricht, dann trifft das auch für die Gewinnerinnen der Wahlgänge in den anderen Kantonen zu – der Sonntag ist auch  ein Sieg der Frauen. Mit Tiana Moser (GLP) in Zürich, Franziska Roth (SP) in Solothurn und Marianne Binder (Mitte) im Aargau schafften es drei Frauen in den Ständerat, dieses Gremium, in dem Frauen massiv untervertreten sind. 16 Frauen politisieren künftig im 46-köpfigen Ständerat. Das ist Rekord. Bisher waren es 12. 

Staenderatskandidatin Tiana Angelina Moser, GLP, freut sich ueber ihren Wahlsieg nach dem zweiten Wahlgang fuer den zweiten Staenderatssitz, aufgenommen am Sonntag, 19. November 2023 im Cabaret Voltaire in Zuerich. (KEYSTONE/Ennio Leanza).

«Der Kanton Zürich hatte traditionellerweise immer eine Frauenvertretung im Ständerat», sagt Moser. «Die Frauenfrage hat sicher auch mitgespielt», sagt Binder über ihren Sieg und spricht von einem «Frauen-Powerplay», das gespielt worden sei, weil sich die anderen Kandidatinnen zurückgezogen hätten.

Die drei Frauen gewannen allesamt gegen SVP-Männer. 

Die SP war eine Altherrenpartei

Der Schaffhauser Simon Stocker profitierte davon, dass selbst einige Freisinnige sich für ihn aussprachen. Auch weil sein Gegner Minder die junge FDP-Kandidatin Nina Schärrer für den zweiten Wahlgang verdrängte, was ihm manche übel nahmen.

Stocker kam ebenso zugute, dass die SP 2022 mit der Alternativen Liste (AL) fusionierte, die der neue Ständerat einst mitgegründet hatte. Die Schaffhauser SP hatte den Ruf einer Altherrenpartei, die AL verjüngte sie und brachte auch nützliche Fertigkeiten für den Wahlkampf zu den Sozialdemokraten. Zum Beispiel digitales Campaigning. 

Stocker steht inzwischen im Haus der Kantonsverwaltung, er hat von der Schaffhauser Regierung Wein und eine Urkunde bekommen. Dann platzt SVP-Regierungsrätin und Finanzdirektorin Cornelia Stamm Hurter in den Saal. Sie gratuliert Stocker, aber noch mehr warnt sie ihn davor, dass Schaffhausen künftig mehr Abgaben an den Bund zahlen müsse. Einmal, zweimal, ziemlich eindringlich. Dagegen müsse er sich als Ständerat wehren. 

Stocker lacht den Appell weg. So schnell geht Wandel. So schnell ist man in der neuen Rolle.