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Der Fall Könizbergwald
Das grosse Tabu: Wenn eine Mutter ihr Kind tötet

Illustration eines Mannes, der nachts durch einen dichten Wald geht, beleuchtet von einem einzigen Lichtstrahl.
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In Kürze:
  • Das Obergericht Bern verurteilt eine 33-jährige Mutter wegen Mordes zu 18 Jahren Haft.
  • Die Beweislage basiert hauptsächlich auf DNA-Spuren sowie Zeugenaussagen eines 12-jährigen Buben.
  • Die forensischen Untersuchungen ergaben keine psychischen Störungen bei der Angeklagten.
  • Gemäss Forschung sind Kindstötungen in der Schweiz mit 0,3 Fällen pro 100’000 Einwohner selten.

Gebeugt sitzt die Frau da, greift zum Taschentuch und weint leise hinein. Soeben hat sie an diesem Montagnachmittag im Gerichtssaal am Berner Obergericht das Urteil des Richters gehört. Die 33-Jährige soll ihre 8-jährige Tochter mit einem Stein im Wald bei Köniz erschlagen haben. Es ist bereits die zweite Instanz, die zu diesem Schluss kommt.

18 Jahre für den Mord am eigenen Kind.

Bis zuletzt beteuerte die Bernerin ihre Unschuld. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Der Verteidiger wird Berufung einlegen und den Fall ans Bundesgericht weiterziehen.

Gerichtszeichnung eines Prozesses vor dem Regionalgericht: Eine Frau sitzt vor dem Richter, als ihre Mutter aussagt, unschuldig in Haft zu sein.

So bleibt ein mögliches Motiv weiterhin im Dunkeln. Auch die Frage nach der Täterin oder dem Täter kann nach diesem zweiten Prozess nicht restlos beantwortet werden. So plädiert der Anwalt der Mutter auch heute noch für einen Freispruch. Er wirft den Ermittlern einen Tunnelblick vor. Man habe sich viel zu schnell auf seine Mandantin als Täterin fokussiert. Von weiteren möglichen Verdächtigen sei nicht mal ein Alibi erfragt worden.

Der Fall, schweizweit bekannt unter «Mord im Könizbergwald», wird die Gerichte weiterhin beschäftigen.

Unabhängig von der Schuldfrage ist dieser Fall längst zu einer Parabel des Unsagbaren geworden. Das Töten des eigenen Kindes. Ein Tabu, das stets zur einen grossen Frage führt:

Wie kann man nur?

Das Risiko für Neugeborene

Paula Krüger kennt diesen Impuls. Die Forscherin der Hochschule Luzern ertappt sich auch heute noch dabei, wie auch sie immer wieder selbst eine Erklärung für das Unsagbare sucht. «Auch nach den vielen Jahren, die ich zum Thema arbeite, ist es jedes Mal unbegreiflich.»

Krüger hat in ihrer Forschungsarbeit zu Neonatiziden, also Tötungen von Neugeborenen, gelernt, dass gerade diese Tat oftmals nicht erklärbar ist. «Auch wenn es schwierig ist – wir haben leider zu akzeptieren, dass es geschieht. Und weiterhin geschehen wird.»

In der Schweiz kommt es gemäss ihrer Studie pro 100’000 Einwohnern zu 1,8 Tötungen von Neugeborenen. Ab dem ersten Lebensjahr nimmt dieser Wert massiv ab und beträgt 0,3.

Gedenkstätte im Papillon-Quartier mit Kerzen, Blumen und einem Stofftier für ein verstorbenes achtjähriges Mädchen, Köniz, Februar 2022.

Das heisst: Tötungen von Kindern durch die eigene Mutter sind in der Schweiz extrem selten. Ein- bis dreimal im Jahr kommt das vor, häufig im Kontext eines erweiterten Suizids.

Umso grösser sind die Reaktionen auf Mordfälle. Als im zürcherischen Flaach vor zehn Jahren eine Mutter ihre beiden Kinder (2 und 5) erstickte, führte das zu massiven Anfeindungen der Kinder- und Erwachsenenschutz­behörde. Man wollte einen Schuldigen. Für Teile der Bevölkerung war damals klar: Die noch junge Behörde Kesb, bereits zuvor in den Fall involviert, verantwortete hauptsächlich den Tod der Kinder.

Paula Krüger sagt: «Interessant daran war, dass so die Verantwortung der Täterin in den Hintergrund rückte.»

Denn: Die Mutter kann nicht schuld sein.

Rütteln am Grundsätzlichen

Für die Forscherin zeigte sich damit, dass die Rolle der Mutter noch immer idealisiert wird. Fürsorglich, selbstlos und stabil hat sie zu sein. «Fällt dann einmal eine Frau aus der Rolle oder greift gar zum Äussersten, rüttelt das an Grundsätzlichem; an etwas, das schlicht nicht sein darf.»

Die Gesellschaft verlangt dann von den Behörden Antworten. Und hadert umso mehr, wenn sie keine Klarheit schaffen. Besonders dann, wenn es wie im Fall Könizbergwald scheinbar um eine «normale» Mutter geht.

Gemäss Gerichtsakten litt die junge Bernerin zwar unter der Trennung vom Ex-Freund, hatte zum Tatzeitpunkt aber keine Depression oder andere schwerwiegende psychische Störung. Die Angeklagte ist jemand aus der Mitte der Gesellschaft. Eine Abgrenzung ist darum umso schwieriger.

Zahlreiche Einvernahmen und ein forensisches Gutachten skizzieren ein Bild der Beschuldigten. Sie feierte gern Partys, kümmerte sich aber durchaus um schulische Angelegenheiten der Tochter. In ihrer Wohnung herrschte Unordnung, an ihrem Arbeitsplatz galt sie aber als zuverlässig. Sie hörte Metal, hatte zahlreiche Piercings, während sie doch eine enge Beziehung zu ihren «wertkonservativen» Eltern pflegte.

Es gibt keinen Beweis für die Schuld der Mutter

Paula Krüger hat von 1980 bis 2010 Fälle von Neonatiziden analysiert, elf hat sie besonders eingehend begutachtet. Psychische Störungen spielten keine Rolle, sagt sie. «Aber bei der Tötung älterer Kinder schon.» Muster herauszufiltern, sei schwierig. Auf einen Aspekt ist die Psychologin aber immer wieder gestossen: psychische Belastungen.

Auch bei der angeklagten Bernerin wurde dies thematisiert. Gemäss Anklage soll die Frau, die Anfang 20 das Kind bekam, mit ihrer Mutterrolle überfordert gewesen sein; soll die Tochter als Hindernis für Beziehungen zu Männern gesehen haben. Für das Obergericht ist der Fall aber nicht eindeutig.

Einen hundertprozentigen Beweis, dass die Mutter die Täterin ist, gibt es nicht. Es ist ein Indizienprozess. Mittels Befragungen, Spurensuche am Tatort und Handyauswertungen rekonstruierten die Ermittler aber die Ereignisse, die zum Drama führten.

Der Stein beim Hüttli

1. Februar 2022. An diesem Abend herrschen Temperaturen knapp über null Grad, ein starker Wind weht. Mutter und Tochter verlassen ihre Wohnung im Könizer Ortsteil Niederwangen und gehen Richtung Wald. Unterwegs treffen die beiden einen Jungen, der mit seinem Hund unterwegs ist. Der damals 12-Jährige sollte zum wichtigsten Zeugen werden.

Mutter und Tochter laufen zum «Versteckli», wie es die Beschuldigte bezeichnet. Eine Woche zuvor haben die beiden im Dickicht ein paar Äste zusammengebunden und ein Hüttli gebaut.

Hier sollten dem Mädchen mit einem acht Kilogramm schweren Stein schwerste Kopfverletzungen zugefügt werden.

Kann eine Mutter so etwas tun?

Polizeibeamte in orangefarbenen Westen durchsuchen den Könizbergwald nach Spuren. Foto: Jürg Spori / Tamedia AG.

Gesichert ist, dass die damals 30-Jährige an diesem Abend zu Hause sofort eine Suchaktion startet, Eltern von Freunden der Tochter anruft, ihre Mutter benachrichtigt. Gemeinsam gehen sie in den Wald, finden das tote Mädchen, schlagen Alarm.

«Es muss die Mutter gewesen sein.» Das sagte der Richter bei der Verhandlung am Regionalgericht im Juni 2024. Die Dichte der Indizien liessen für das Fünfergremium der ersten Instanz keinen Zweifel offen. Etwa die DNA-Spuren der Mutter am Stein, der als Tatwaffe gilt. Oder die Aussagen des 12-jährigen Zeugen, die das Gericht als glaubhaft wertete.

Die Aussagen der Mutter hingegen seien in Teilen widersprüchlich. Beispielsweise machte sie immer wieder andere Angaben dazu, wie oft sie mit dem Mädchen beim Hüttli im Wald war und was sie dort gemacht hatten. Auch das Verhalten der Frau am Tatort wurde als verdächtig gewertet. Sie habe nur den Puls des Mädchens gefühlt, es nicht weiter berührt. Ihre Begründung gegenüber der Polizei: Sie habe nicht mit einer Gewalttat in Verbindung gebracht werden wollen. Diese Aussage erschien dem Gericht als «lebensfremd».

Das Obergericht folgt in weiten Teilen der Vorinstanz, geht jedoch zugunsten der Beschuldigten davon aus, dass die Tat nicht geplant war.

Es bleibt die Frage: Wie kann man nur?

Wie Prävention geht

Paula Krüger kann keine Antwort auf diese Frage geben. «Weil ich die Einzelheiten im Fall nicht kenne und es auch sein kann, dass es keine abschliessende Antwort gibt.» Für sie ist die Analyse der Fälle wichtig. Mit ihrer Forschung will sie dazu beitragen, mehr Wissen über diese sehr seltenen Taten zu gewinnen. Das Ziel: Kindstötungen so weit wie möglich verhindern.

Zur Prävention braucht es laut der Forscherin ein erhöhtes Bewusstsein für Neonatizide und die Tötung älterer Kinder. «Die Aufklärung von Öffentlichkeit und Fachleuten ist dabei zentral.»

Krüger beobachtet, dass im öffentlichen Diskurs die Rolle von Eltern differenzierter wiedergegeben wird als noch vor dreissig Jahren. Es geht um Überforderung, wie Eltern wegen Kindern an Grenzen stossen. «Elternsein ist nicht nur schön.» Dass darüber mehr geredet wird, erachtet die Psychologin als gut, das nehme Druck von den Eltern.

Und trotzdem. Das Tabu bleibt. Es ist tief in der Gesellschaft verankert. Zum Schutz des Kindes.