Serie «Neustart»Früherer Topmanager der Swiss Life bricht ein Tabu – schon wieder
Christian Pfister machte einst als Kommunikationschef der Swiss Life die Krebserkrankung seines Chefs öffentlich. Nun will er den Umgang mit psychisch Erkrankten ändern.

Wenn ein Topmanager bei einem der grossen Schweizer Finanzkonzerne aussteigt, um etwas ganz und gar anderes zu tun, lässt das aufhorchen. Noch dazu kündigte Christian Pfister seinen Abgang bereits 2022, ein ganzes Jahr vorher, an. Die meisten erklärten sich das mit seinem Alter. Der Kommunikationschef war 62, als er dieses Frühjahr die Teppichetage des Versicherers Swiss Life verliess. «Das Alter war es aber nicht», sagt er.
«Ich wollte ein anderes Lebensmodell», erklärt Pfister.
Pfister ist mit einem Tabubruch bekannt geworden. Als der Swiss-Life-Chef Patrick Frost 2017 Krebs bekam, machte dies das Unternehmen öffentlich. Sogar die genaue Art der Krankheit – Lymphdrüsenkrebs – wurde genannt. Bislang hatte kein Konzern des Börsenleitindexes SMI gewagt, mit Erkrankungen seiner Führungspersonen so offen umzugehen.
«Wir haben darüber gemeinsam diskutiert, Patrick Frost und seiner Frau war es ein Anliegen, damit offen umzugehen», erzählt Pfister heute. Was ihn als Kommunikationschef damals leitete, war folgendes Prinzip: «Wenn man selbst aktiv über etwas spricht, kann man die Diskussion mitgestalten und Verständnis schaffen.»
Für sich selbst musste das Pfister erst lernen. Er spricht vom Coming-out, nämlich dem Moment, wo er es wagte, von den psychischen Krisen seiner Tochter zu sprechen. Sie erkrankte als 23-Jährige während ihres Studiums schwer. Das war 2010, und Pfister brauchte zwei Jahre, bis er Vertrauten in seinem Unternehmen davon erzählte. Erst mit seiner Abgangsankündigung 2022 machte er es dann allen bekannt, mit denen er zu tun hatte.

Heute trägt Pfister seine Haare länger und lockiger, hat öfters bunte Hemden und Turnschuhe an. Zwar übt er weiterhin als Selbstständiger ein paar kommerzielle Mandate als Kommunikationsberater aus. Doch drei bis vier Tage in der Woche verdient er bei seiner neuen Aufgabe nichts, aber sprüht vor Enthusiasmus für ein Thema, vor dem fast alle Angst haben: psychische Krankheiten.
Das Leid von psychisch erkrankten Menschen und ihren Familien ist sehr verbreitet, wird aber meist unter dem Deckel gehalten.
Seine frühere Scham hat Pfister nicht nur überwunden, er sieht die Welt inzwischen sogar ziemlich anders. Was Pfister bald merkte: Das Leid von psychisch erkrankten Menschen und ihren Familien ist sehr verbreitet, wird aber meist unter dem Deckel gehalten, das Sprechen darüber fällt schwer.
«Erzähle ich von mir aus über die Krankheit meiner Tochter und die Situation von mir als Vater, stellt sich heraus, dass zwei Drittel meiner Gesprächspartner das kennen und auch liebe Menschen im Umfeld haben, die mit schweren psychischen Krisen kämpfen», sagt Pfister. «Da ist viel Leid im Verborgenen.»
Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung betroffen
Pfister ist seit Anfang Jahr Co-Präsident der VASK Schweiz, der Dachorganisation der Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen in der Schweiz, und will sie zusammen mit anderen Angehörigen bis 2025 neu positionieren. Das Ziel: Der Kreis der Vertrauten rund um die erkrankten Personen muss mehr beachtet und gestützt werden.
Der Verband geht in einer vorsichtigen Schätzung davon aus, dass zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung konstant mit psychischen Krankheiten zu kämpfen haben. Das sind rund 900’000 Menschen. Bei im Durchschnitt drei Angehörigen pro Erkrankten ergibt dies rund drei Millionen Betroffene – also fast ein Drittel der Schweiz.
Mit mehr Selbsthilfeangeboten, Telefonberatung, Öffentlichkeitsarbeit und Weiterbildung will Pfister mit seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die Angehörigenbewegung nun noch breiter aufstellen. Denn die Angehörigen werden bislang nur wenig berücksichtigt – obwohl sie systemrelevant sind.
Eltern, Partner, Geschwister oder Kinder von psychisch Erkrankten brauchen Unterstützung, um ihre wichtige Rolle wahrzunehmen, um selbst gesund zu bleiben wie auch um Teil einer wirksameren Psychiatrie zu werden. Denn 80 Prozent der Genesung seien von psychosozialen Faktoren, also vom Umfeld, abhängig, zitiert Pfister den US-Psychiater Thomas Insel, der früher das National Institute of Mental Health leitete.
Statt mehr Klinikbetten will der US-Neurowissenschaftler Insel eine bessere Einbettung der Erkrankten in Familien und Gesellschaft erreichen. Er fordert nicht das Ende der Stigmatisierung von psychisch Kranken. Sondern das Ende der Diskriminierung. Denn Depressionen, Schizophrenie oder Zwangsneurosen gehören zu unserer Gesellschaft. Das heisst: Sie müssen anerkannt und mit ihnen muss gelebt werden.
Pfister hat das für sich und seine Familie geschafft. «Ich höre unterdessen nur noch auf meine Tochter, sie weiss auch in den schlimmsten Krisen am besten, was sie braucht.»
«Für jede Krise braucht es einen individuellen Kokon für die Erkrankten», betont Pfister. Angehörige spielen dabei eine wesentliche Rolle. «Ich wünsche mir, dass wir Angehörigen und Vertrauten uns offen gegen die Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen wehren.»
Zunächst macht sich Pfister nun auf Geldbeschaffung bei Stiftungen, baut ein neues Team des Dachverbandes auf und plant einen neuen Webauftritt. Auch Allianzen mit anderen Organisationen will er schmieden. Ziel ist auch die noch stärkere Zusammenarbeit mit der Psychiatrie.
Selbstbestimmung ist zentral
Bei Swiss Life war Pfister auch für die Markenstrategie zuständig und fand durch in Auftrag gegebene Kundenbefragungen heraus, dass den meisten Menschen ein selbstbestimmtes Leben am Herzen liegt. «Um diesen Kern und die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit hatten wir unser Marketing und unsere Kommunikation aufgebaut», sagt Pfister. Natürlich lief es für den Versicherer darauf hinaus, damit für die finanzielle Absicherung und seine Produkte zu werben.
Selbstbestimmt leben ist für Pfister inzwischen nicht mehr mit finanzieller Absicherung verknüpft. Es heisst für ihn heute, sich für Veränderungen in der Psychiatrie einzusetzen. «Ich beginne das wie immer bei grossen Projekten mit einem Schuss Naivität», sagt er. Aber ohne Angst.
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