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Russland vor Präsidentenwahl
Ein Kriegsgegner will Putin herausfordern

Boris Nadezhdin speaks to journalists after submitting his documents as a presidential candidate for the upcoming presidential election in the Russia's Central Election Committee in Moscow, Russia, Tuesday, Dec. 26, 2023. The Civic Initiative party, which is not represented in the Duma, is expected to back the nomination of independent candidate Nadezhdin, who is known for campaigning against Russia's actions in Ukraine. (AP Photo/Alexander Zemlianichenko)
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In etlichen russischen Städten standen die Menschen Schlange, um ihm ihre Unterschrift zu geben, teils bei minus 45 Grad Celsius: in Jekaterinburg, in Krasnodar, in Petrosawodsk und etwa in Nowosibirsk. In Moskau und St. Petersburg ebenfalls. Videos davon kursieren derzeit im Netz, die Anhängerinnen und Anhänger des russischen Kriegsgegners Boris Nadeschdin filmen sich, viele freuen sich über die überraschend hohe Beteiligung.

Sie wollen Nadeschdin zu Putins Konkurrenten bei den Präsidentschaftswahlen im März machen oder zumindest ihre politische Unzufriedenheit äussern. Dafür in einer Schlange zu stehen, ist im Russland dieser Tage sicherer, als Protest mit Plakaten auf die Strasse zu tragen – und direkt abgeführt zu werden.

150’000 Unterschriften bis Ende Januar will der 60-Jährige erhalten. Und die Kampagne läuft gut. «Wir sammeln derzeit etwa 15’000 Unterschriften pro Tag», verkündete er Anfang der Woche in einem Interview. Bis Mittwoch waren gemäss der Kampagnen-Website über 120’000 Unterschriften zusammengekommen. Auch im Ausland, zum Beispiel in Belgrad, gingen Menschen für ihn unterschreiben, wie die russische Exilzeitung «Meduza» berichtet .

Unterstützung bekommt Nadeschdin auch von russischen Oppositionellen, zum Beispiel dem im Exil lebenden Aktivisten Maxim Katz. Dieser hat angesichts der Tausenden Unterzeichnenden schon ein «enormes verstecktes Potenzial» der russischen Gesellschaft ausgemacht, die «hungrig» auf politische Teilhabe sei – und nicht etwa wie oft beschrieben völlig apathisch.

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Laut russischer Wahlkommission muss Nadeschdin bis zum 25. Januar 105’000 Unterschriften aus den verschiedenen russischen Regionen erreichen. Die Zahl hat Nadeschdin nach den Angaben seiner Mitstreiter schon übertroffen, offenbar aber noch nicht aus genügend Regionen: Denn aus einer Region werden nicht mehr als 2500 Unterschriften gezählt. Auch deshalb peilt Nadeschdin 150’000 Unterschriften an.

Was nicht heisst, dass ihm, dessen Nachname ausgerechnet vom russischen Wort «nadeschda», Hoffnung, abgeleitet wird, ernsthaft Chancen eingeräumt werden. Kremlchef Wladimir Putin hat die Repression des Staates derart verstärkt, dass Konkurrenz jederzeit ausgeschaltet werden kann. Das Wahlprozedere ist eine Blackbox der Willkür. Selbst die staatsnahen Propagandisten weisen in TV-Sendungen immer wieder darauf hin, dass Putin der einzige Kandidat dieser Wahl sei. Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow schlug gar vor, die Wahl während des Kriegs in der Ukraine ganz bleiben zu lassen.

Jeder Fehltritt könnte sein Aus bedeuten

Der Krieg ist es, den Boris Nadeschdin zum zentralen Wahlkampfthema gemacht hat. Er ist erklärter Gegner der Vollinvasion in der Ukraine, spricht aber vorsichtshalber nur von «Spezialoperation». Auch sonst achtet er sehr auf seine Wortwahl, jeder kleinste Fehltritt könnte sein vorzeitiges Aus bedeuten. 

Nadeschdin gilt als alter Liberaler der 1990er-Jahre. Er war Vertrauter des Oppositionellen Boris Nemzow, der 2015 nahe dem Kreml ermordet wurde. Nur schlug Nadeschdin anders als Nemzow den Weg der Marionettenopposition ein, mit angepasstem Verhalten – so erklärt es der russische Soziologe Grigori Judin auf X. «Der Vorteil dieser Strategie ist, dass man regelmässig als Prügelknabe in die TV-Shitshows eingeladen wird. So verschafft man sich landesweite Bekanntheit (das nützt bei Wahlen!)», kommentierte Judin. Nadeschdin war zum Beispiel bei TV-Propagandist Wladimir Solowjow zu Gast.

Nadeschdin trete angepasst auf, sagt auch der Russlandforscher Jan Matti Dollbaum von der Ludwig-Maximilians-Universität München. So fordert der Politiker beispielsweise nicht, dass die Ukraine wieder in den Grenzen von 1991 existieren sollte. «Aber er nennt Russland offen ein autoritäres Regime und will als erste Amtshandlung politische Gefangene freilassen. Das sind Positionen, die klar zeigen, auf welcher Seite er steht», sagt Dollbaum. «Er scheint einen echten, inneren Antrieb zu haben, er ist ein Politiker mit langem Atem, kein Karrierist. Aber er ist eben auch zu Kompromissen bereit und hält sich an die Regeln des Regimes.»

Das nährt den Verdacht, der Kreml könne Nadeschdins Kandidatur lanciert haben. «Vielleicht kam ein Tipp aus dem Kreml oder der Präsidialverwaltung, dass er es jetzt versuchen könne, ohne dass man ihm direkt Steine in den Weg legt», sagt Dollbaum, doch das seien Spekulationen. Solche Gerüchte, dass der Kreml überall seine Finger im Spiel hat, kursieren häufig im russischen Wahlkampf.

Dass Nadeschdin überhaupt Unterschriften sammeln darf, ist ein kleiner Erfolg. Im Dezember wurde ihm das von der Wahlkommission erlaubt, zuvor war die Juristin und Lokalpolitikerin Jekaterina Dunzowa da bereits gestoppt worden. Fehler im Bewerbungsprozess sollen der Grund gewesen sein, hiess es. (Lesen Sie hier mehr über Jekaterina Dunzowa.)

«Prinzip Gegenkandidat» gleicht einem Theater

Dabei ist es nicht so, dass es keine zugelassenen Gegenkandidaten gäbe. Doch auch sie zeigen keine grossen Erwartungen, etwas ändern zu können. Nikolai Charitonow von den Kommunisten etwa antwortete einem Reporter auf die Frage, ob er gewinnen könne, in solchen Kategorien, «gewinnen oder nicht gewinnen», denke er nicht. Wladislaw Dawankow, der für die Partei Nowye ljudi (Neue Menschen) in der Duma sitzt, antwortete unlängst unter Lachen auf dieselbe Frage: «Das hängt davon ab, was Sie unter Sieg verstehen.» Das «Prinzip Gegenkandidat» in Russland – es gleicht einem Theaterspiel.

Hinzu kommt, dass Dawankows 2020 gegründete Partei als vom Kreml gesteuert gilt. Ihr Wirken dient der «New York Times» zufolge einzig dazu, von anderen liberalen Oppositionsströmungen abzulenken und diese zu spalten.

«Hoffe, dass ich am Ende noch lebe»

Dass der Kreml Nadeschdin nun zumindest vorerst gewähren lässt, soll wohl den Anschein erwecken, dass im System Putin Gegenkandidaten sehr wohl erlaubt sind. Diese stolpern dann nur unglücklicherweise nach kurzer Zeit über die Hürden des Wahlprozederes. So könnte es auch Nadeschdin ergehen. Von den Unterschriften könnte die Wahlkommission einige für ungültig erklären. Wohl auch deswegen will er auf Nummer sicher gehen und hat sein Ziel mit 150’000 Unterschriften höher angesetzt.

Illusionen macht er sich dennoch keine. Einem Reporter sagte er jüngst: «Wissen Sie, ich hoffe einfach, dass ich am Ende der Wahlkampagne noch am Leben und in Freiheit bin. Und dass man mich nicht zu einem ausländischen Agenten erklärt hat.»