Medizin unter DruckPräsident der Kinderärzte spricht von politischem Versagen
Kinderspitäler und Kinderarztpraxen sind am Anschlag. Nun ruft der Präsident des Verbandes Pädiatrie Schweiz die Politik zum Handeln auf – und richtet eine Bitte an die Eltern.
Die Schweizer Spitäler sind zurzeit stark ausgelastet. Speziell unter Druck stehen Kinderspitäler und Kinderarztpraxen. Der Verband Pädiatrie Schweiz hatte im Herbst vor einem Versorgungsengpass gewarnt. Dieser sei nun eingetroffen, sagt Präsident Philipp Jenny.
Ein Grund dafür ist, dass gleichzeitig Corona-, Influenza- und RS-Viren im Umlauf sind. Am RS-Virus (Respiratorisches Synzytial-Virus) erkranken diesen Winter mehr Kinder als in anderen Jahren. Er habe in seiner Praxis soeben wieder ein betroffenes Baby versorgt, sagt Jenny. Bei Säuglingen und Kleinkindern kann eine Infektion mit dem RS-Virus zu einer Spitaleinweisung führen – bisher jährlich in rund 1000 Fällen. Auch an Grippe und grippalen Infekten erkranken momentan viele Kinder.
Doch aus Jennys Sicht ist die Virensituation nicht der einzige Grund für die aktuellen Engpässe. Der Verband Pädiatrie Schweiz sieht auch strukturelle Probleme. Seit vielen Jahren versuchten die Kinderärzte vergeblich, sich in der Politik Gehör zu verschaffen, sagt Jenny. Die Politik beschäftige sich vor allem mit der Frage, wie die Kosten gesenkt werden könnten – und nicht damit, wie die Versorgung gewährleistet werden könne. «Das ist ein Versagen.»
Was aus Sicht der Kinderärztinnen und -ärzte helfen würde:
Mehr Haus- und Kinderärzte ausbilden
Von 150 Kinderärztinnen und -ärzten, die jährlich in der Schweiz zu praktizieren beginnen, wurden nur 70 vollständig in der Schweiz ausgebildet. «Das genügt nicht», sagt Jenny. Es brauche mehr Ausbildungs- und Studienplätze. Die Bevölkerung sei gewachsen, und viele arbeiteten heute Teilzeit. Daher brauche es mehr Ärzte als früher. Begrüssen würde es Jenny, wenn Studierende einen Teil der Ausbildung in Praxen statt Spitälern absolvieren müssten. Das würde zu mehr Ausbildungsplätzen führen. Doch die ausbildenden Ärztinnen und Ärzte müssten dafür entschädigt werden.
Den Haus- und Kinderarztberuf attraktiver machen
Haus- und Kinderärzte haben weniger Lohn und Ansehen als andere Fachärztinnen und -ärzte. Das Tarifsystem sei nach wie vor ungünstig, sagt Jenny. Eine Änderung forderte die Hausarztinitiative. Diese wurde zurückgezogen, weil der Bundesrat Verbesserungen in Aussicht gestellt hatte. Inzwischen wurden rund 200 Millionen Franken umverteilt. Aus Jennys Sicht reicht das aber bei weitem nicht. In der Kinderarztpraxis seien Gespräche wichtig, und diese könne man nicht adäquat verrechnen.
In die Telefontriage vertrauen
Kinderarzt Jenny hat aber auch eine Bitte an Eltern: Sie sollen anrufen, bevor sie die Praxis oder das Spital aufsuchen – und der telefonischen Beratung auch vertrauen. Viele Eltern wollten das Kind lieber gleich dem Arzt oder der Ärztin zeigen, sagt Jenny. Das sei aber nicht sinnvoll. Die telefonische Beratung diene der Triage, und sie erfolge durch medizinisch geschulte Personen. «Wir weisen niemanden leichtfertig ab.» Wenn ein Kind aber zum Beispiel erst seit kurzem huste und keine weiteren Symptome habe, rate man dazu, vorerst abzuwarten.
Jenny hat den Eindruck, dass Eltern heute mit einem kranken Kind eher zur Ärztin oder gar ins Spital gehen als früher. Belegen lasse sich das allerdings nicht. Und natürlich sollten Eltern kranker Kinder achtsam sein. Ärztlichen Rat sollten sie bei grippalen Infekten dann suchen, wenn der Allgemeinzustand des Kindes sich verschlechtert, wenn es Anzeichen für Atemnot gibt oder wenn das Kind deutlich weniger trinkt als sonst.
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